Wendy und Kevin Holdener: Verfilmte Geschwisterliebe jenseits des ...
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Sie habe nie eine Maske aufgesetzt, aber vieles nicht sagen können, erzählt die Skirennfahrerin Wendy Holdener in einem Film des Schweizer Fernsehens. Ihr Bruder Kevin kämpfte 13 Jahre lang gegen den Krebs und war doch voller Lebensfreude.
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Kevin Holdener war eine der wichtigsten Bezugspersonen für Wendy: als Bruder, als Manager, als Passionierter des Skisports. Kevin Holdener hat sich auch im Spital gefilmt.
SRF
Was verbindet Geschwister? Eine Antwort liegt vielleicht in dieser kleinen Anekdote, die die Skirennfahrerin Wendy Holdener über ihren Bruder Kevin erzählt. Als sie geboren worden sei, habe ihr drei Jahre älterer Bruder angefangen zu reden. Die Mutter habe zu ihm gesagt: «Jetzt musst du mit mir reden können, sonst funktioniert das hier nicht.» Und Kevin hörte auf seine Mutter.
Wendy Holdener erzählt dies an der Trauerfeier für ihren Bruder im Februar 2024. Es ist eine Szene aus dem Dokumentarfilm «Wendy Holdener und ihr Bruder Kevin – verbunden über den Tod hinaus», der am Donnerstag von SRF veröffentlicht wurde. Kevin Holdener wurde 34 Jahre alt, er hatte 13 Jahre lang gegen den Krebs gekämpft.
Der Film weckt Erinnerungen. 2011 stapfte Wendy Holdener an den Ski-Weltmeisterschaften in Garmisch-Partenkirchen aus dem Zielraum, den Kopf gesenkt. Sie rede nicht mit den Medien, hiess es, sie habe mit sich genug zu tun. Es war die erste WM-Teilnahme für die damals 17-Jährige, ein früher Höhepunkt in der Karriere. Doch beim Bruder war erst gerade diese Krankheit diagnostiziert worden, 13 Stunden lang hatte man ihn operiert.
Statt sich Selbstmitleid hinzugeben, begleitete Kevin Holdener seine Schwester an die Weltspitze, zu WM-Gold, zum Olympiasieg.
Privat
Sie hatten nur zwei Jahre Ruhe vor dem Krebs
Im Film erinnert sich Wendy Holdener an das lange Warten im Spital, dazu wird in einer kurzen Sequenz Kevin gezeigt, die Operation ist überstanden, die Chemotherapie hat bereits begonnen. Kevin Holdener hat sich auf eines dieser Gestänge gestellt, mit denen man Infusionen neben sich herschieben kann, und brettert damit eine Strasse hinunter – die Nadel in der Vene, keine Haare auf dem Kopf, aber ein Lachen im Gesicht.
Das ruft eine weitere Erinnerung wach. Weltcup-Finale 2013 in Lenzerheide, die Sonne scheint, und im Zielraum steht ein strahlender Kevin Holdener. Er hat den Riesenslalom der Männer als Vorfahrer absolviert und viel Spass dabei gehabt. Dass es für ihn keine Karriere als Rennfahrer mehr geben würde, wusste er da bereits. Im Dokumentarfilm sagt seine Schwester, sie hätten zwei Jahre lang Ruhe gehabt, sonst sei der Krebs stets ein Thema gewesen. Ein Thema, das sie im Skizirkus meist allein mit sich herumtrug. Für die Aussenstehenden war Kevin einfach geheilt.
Kevin Holdener war eine der wichtigsten Bezugspersonen für Wendy: als Bruder, als Manager, als Passionierter des Skisports. Ihre Karriere wäre wohl anders herausgekommen, wenn er nicht ständig an ihrer Seite gewesen wäre. Doch die enge Bindung konnte in traurigen Momenten auch schwierig sein, wenn Wendy für ihren Bruder fahren wollte, mit dem Kopf aber nicht beim Sport war.
Der Film zeigt das in kurzen Sequenzen: ein missratener Schwung, das Tor verpasst, mit hängenden Schultern ins Ziel gerutscht. Und dann passiert das, von dem manche zur Sportlerin sagten, es sei kein Zufall gewesen: Wendy Holdener bricht sich im Dezember 2023 das Sprunggelenk. Sie arbeitet am Comeback, glaubt, dass es dem Bruder guttun werde, wenn er sie wieder am TV sehe. Sie ahnt nicht, dass dieser nur noch gut drei Monate leben wird.
Es gibt traurige Sequenzen in dieser Dokumentation, doch sie ist alles andere als larmoyant. Kevin Holdener erkrankte mit knapp 21 Jahren, er lebte im Bewusstsein, dieses Wuchern in sich zu tragen. Doch statt sich Selbstmitleid hinzugeben, begleitete er seine Schwester an die Weltspitze, zu WM-Gold, zum Olympiasieg. Wie sehr er auf Details achtete, zeigt sich in dem Moment, in dem Wendy Holdener bei ihrer Rede an der Trauerfeier das Mikrofon richtet und sagt, jetzt wäre Kevin schon nicht zufrieden, weil sie das nicht vorher getestet habe.
Erzählt wird im Film aber auch die Geschichte eines Mannes, der das Leben genoss und manchmal für drei lebte, wie es Wendy Holdener einmal formuliert. Er bereiste die Welt und fing an, mit einer an einer langen Stange oder einer Drohne fixierten Kamera 360-Grad-Filme von sich zu drehen. Man sieht ihn an exotischen Orten, in der Wüste, auf Schnee, beim Surfen oder Tauchen. Hin und wieder hört man einen Juchzer der Freude, der dabei aus ihm herausbricht.
Kevin Holdener hat sich aber auch im Spital gefilmt, neben der Röhre für radiologische Untersuchungen, im Krankenbett, am Tropf. Mal grinsend, mal nachdenklich. Szenen, die ebenfalls zu seinem Leben gehörten.
Wendy Holdener sagt, das Skifahren sei für sie wieder wichtiger geworden. Sie wisse, ihr Bruder Kevin hätte daran Freude.
SRF
Das Drehbuch wurde am Ende vom Schicksal geschrieben
All diese Momente wollte er zeigen, zu einem Film verarbeiten lassen. Seine Frau Carmen sagt, er habe sie einmal gefragt, ob sie das machen könne. Dann entstand die Idee einer Dokumentation für das Fernsehen. Es sei lange nicht klar gewesen, was dabei im Fokus stehen solle, sagt Wendy Holdener. Zu Kevin habe sie gesagt, er müsse das nicht ihretwegen machen. «Zeig deine Story!»
Als die Filmarbeiten begannen, waren alle im Hier und Jetzt. Zwar waren sich die Holdeners bewusst geworden, dass Kevin den Krebs nicht besiegen würde. Aber es blieb ja Zeit. Wendy Holdener sagt, sie habe im November 2023 den Arzt gefragt: «Wie lange hat Kevin noch?» Die Antwort lautete: ein bis drei Jahre. Das hätte gereicht, um die Story von Kevin Holdener zu erzählen.
Doch letztlich schrieb das Schicksal das Drehbuch. Ganz am Anfang des Films sieht man Kevin Holdener im Spitalbett, dazu hört man die Sprachnachricht, die er dem Filmemacher hinterlassen hat. Er habe eine Lungenentzündung, das sei in seiner Situation gar nicht gut. Deshalb stellt er in den Raum, ob das Filmteam allenfalls sehr bald vorbeikommen wolle. Weil es sonst im Worst Case am Ende keine Story geben könnte. Der Filmemacher rief zurück, es war das letzte Telefongespräch, das Kevin Holdener führte.
Aber es gab am Ende eine Story – und es wurde auch eine der Hoffnung. Das Filmteam war dabei, als Kevin Holdener kurz vor seinem Tod im Spital seine Freundin Carmen heiratete. Es ist einer der bewegendsten Momente der Dokumentation, weil dank diesen Bildern offensichtlich wird, dass Glück bis zum letzten Atemzug möglich ist.
Kurz vor seinem Tod heiratete Kevin Holdener seine Freundin Carmen.
SRF
Wendy Holdener, ihre Eltern, ihre Schwägerin – sie alle reden im Film auch aus der Perspektive der Zurückgebliebenen. Dabei werden regelmässig Sequenzen aus Kevin Holdeners 360-Grad-Filmen gezeigt. Momentaufnahmen des Glücks. Sie illustrieren, was die Hinterbliebenen mit ihren Worten ausdrücken: dass Erinnerung und Gefühle über den Tod hinaus leben.
Wie tief die Verbundenheit in dieser Familie sein muss, belegen ein paar Sätze von Wendy Holdener. Am 22. Februar 2024 sagten die Ärzte den Angehörigen, es sei Zeit, ins Spital zu kommen. Der Bruder Steve schaffte es nicht, er telefonierte mit Kevin per Video. Wendy Holdener erzählt davon und schliesst mit dem Satz: «Als Mami sagte: ‹Kevin, du kannst gehen›, ist er gegangen.» Kevin Holdener hat bis zuletzt auf seine Mutter gehört.
Das Leben geht weiter. Am Ende des Films trainiert Wendy Holdener auf dem Gletscher. Sie sagt, das Skifahren sei wieder wichtiger geworden. «Ich mache es gerne, ich weiss, er hätte Freude.» Am Samstag startet sie in Sölden zum ersten Rennen der Saison.