Paralympics in Paris: Wie Markus Rehm für das Ansehen ...
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Zentimeter für Zentimeter kämpft er sich durch die Sandgrube. Immer mit dem Ziel, seinen eigenen Weltrekord zu knacken. Prothesen-Weitspringer Markus Rehm ist in seiner Disziplin einsame Spitze. Sieben Mal in Folge gewann der 35-Jährige den Weltmeistertitel, drei Mal in Folge die Goldmedaille bei den Paralympischen Spielen. Kurzum: Rehm ist seit 2011 bei Welt- und Europameisterschaften sowie bei den Paralympics ungeschlagen.
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„Ich springe schon gegen mich selbst“, sagte Rehm im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) lachend und ergänzte selbstbewusst: „Ich weiß, wenn ich einen einigermaßen guten Sprung in den Sand bekommen, dass ich gewinne.“ Deswegen komme es nicht nur auf den Sieg, den er auch bei den Spielen von Paris (28. August bis 8. September) anpeilt, an, sondern auch auf die Weite. Und in dieser Hinsicht hat Rehm sich ein großes Ziel gesetzt: Der 35-Jährige will als erster Weitspringer – olympisch wie paralympisch – die Neun-Meter-Marke knacken. Derzeit liegt seine Bestweite bei 8,72 Metern.
Trainerin Nerius legte neues Ziel einfach fest
Dass der Athlet an dieser „unmöglichen Aufgabe“ gemessen wird, hat er seiner Trainerin Steffi Nerius zu verdanken. „Wir haben gesehen, dass ich bei der Landung noch einiges verschenke“, erklärte Rehm. Selbst getraut dieses Ziel auszusprechen hätte er sich aber nicht, stattdessen ging die Trainerin voran – und zeigte damit eine Eigenschaft, die Rehm an ihr schätzt. „Sie hat ein tolles Gespür für Athleten“, sagte er über die ehemalige Speerwerferin, die selbst Weltmeisterin wurde und Olympia-Silber gewann.
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Bei den Weltmeisterschaften in Berlin 2009 gewann Steffi Nerius die Goldmedaille.
Quelle: picture-alliance/ dpa
Moment mal: Eine ehemalige Speerwerferin trainiert einen Weitspringer? Rehm erhalte oft Fragen wie diese vermeintlich ungewöhnliche Kombination funktioniere. Doch die Antwort sei einfach: „Sie hat einen ganz anderen Blickwinkel und das ist viel wichtiger als von Anfang an die perfekte Technik zu kennen.“ Zusammen gestalten sie das Training offen. Wenn es einen neuen Impuls brauche, holen sie sich Hilfe von außen. „Steffi ist sich nicht zu fein, andere Trainer zu fragen“, lobte Rehm. „Wenn sie oder ich irgendwas Neues sehen, dann probieren wir das aus. Deswegen hatte ich nie das Bedürfnis mich umzuorientieren.“
Seit 2008 sind Rehm und Nerius ein Team – und sie werden es wohl auch bleiben, bis der Weitspringer die Spikes an den Nagel hängt. „Für mich ist klar, dass ich als Trainerin aufhöre, wenn Markus seine Sportkarriere beendet“, sagte die 52-Jährige, die auch das Sportinternat in Leverkusen leitet, im Interview mit der Sporthilfe im vergangenen Jahr.
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Markus Rehm mit Trainerin Steffi Nerius während der World Para Athletics Championships im Juli 2023 im Charlety Stadium in Paris, Frankreich.
Quelle: picture alliance / Eibner-Pressefoto
Die Chemie passt. Und das ist nur eines der Erfolgsgeheimnisse. Denn der permanente Drang zur Optimierung ist ein weiterer Grund für die Dominanz Rehms. „Der größte Fehler ist es hochnäsig zu werden und zu denken, dass man alles weiß“, erklärte der 35-Jährige. Deswegen hat er mit Blick auf Paris 2024 sein Training umgestellt, will seine Sprintfähigkeit verbessern und weiter an Absprung und Regeneration arbeiten.
Zu seinen Einheiten zählt aber nicht nur die sportliche Komponente, sondern auch die Arbeit mit seiner Prothese. Mit 14 Jahren verlor Rehm nach einem Unfall mit dem Wakeboard im August 2003 sein rechtes Bein unterhalb des Knies. Zwar kehrte er anschließend zunächst auf das Wakeboard zurück und wurde Vizejugendmeister, dann wechselte er aber zur Leichtathletik. „Ich verbringe selbst viele Stunden in der Werkstatt und optimiere die Prothesen“, erzählte Rehm, der einen Meister in Orthopädietechnik und große Freude am Tüfteln hat. Dabei geht es vor allem darum, die Prothese den körperlichen Entwicklungen anzupassen.
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Gute Sprünge mit oder wegen der Prothese?
Doch die Prothese stellt Rehm auch vor Probleme. Immer wieder behaupten Konkurrenten, dass sie dem 35-Jährigen zu weiteren Sprüngen verhelfe. 2021 verwehrte der Internationale Sportgerichtshof (Cas) Rehm die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Tokio. Grundlage dafür sei eine Regel laut der Prothesen als mechanisches Hilfsmittel gelten – und Athletinnen und Athleten beweisen müssten, dass er dadurch keinen Vorteil hat. Für Rehm sind diese Debatten anstrengend. Seine Ambitionen, sich mit olympischen Sportlern zu messen, hat er daher zurückgefahren. Wenn überhaupt, nimmt er außerhalb der Wertung teil.
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Markkus Rehm in Aktion: Bei der WM in Japan im Mai 2024 holte er erneut die Gold-Medaille in seiner Klasse T64.
Quelle: picture alliance / ASSOCIATED PRESS
„Ich weiß nicht, ob ich das nach wie vor verfolgen möchte, weil es viel Kraft kostet und es ist auch wahnsinnig emotional“, erklärte er und kritisierte: „Wir werden immer nur auf unsere Prothese reduziert.“ Der 35-Jährige spreche gerne darüber, schließlich sei die Prothese ein Teil von ihm, „aber meine Leistung hängt nicht nur damit zusammen. Und, das ist ihm besonders wichtig: „Es wurde nie nachgewiesen, ob das wirklich ein Vorteil ist.“ Lediglich eine internationale Studie von 2017, die im Magazin „Nature“ erschienen ist, legte nahe, dass die besten unterschenkelamputierten Athleten und Athletinnen gegenüber olympischen Sportlerinnen und Sportlern einen Leistungsvorteil von mindestens 13 Zentimetern hätten. Rehm kritisierte schon damals, dass die Nachteile, die Athleten wie er hätten, in dieser Studie keine ausreichende Beachtung fanden und diese ohnehin „wissenschaftlich schwer“ zu beziffern seien.
An den Regeln ändert das zwar nichts, Rehm tut dennoch viel, um für seine Leistung gesehen zu werden. „Ich bin so gläsern, dass ich sogar meine ganzen Werte veröffentliche, damit diese Debatte aufhört“. Theoretisch könne jeder seine Prothese nachbauen. Und statt für eine Teilnahme an Olympischen Spielen zu kämpfen, setzt sich der Weitspringer nun dafür ein, olympische und paralympische Sportlerinnen und Sportler besser miteinander zu vernetzen.
„Ich will nicht auf die Schulter gekloppt und gesagt bekommen: Oh, toll, dass du noch Sport machst. Dann sage ich: Genau, du machst auch Sport. Ich mache Sport. Nur weil ich da so ein Ding trage, kann ich natürlich Sport machen“, meinte er. „Ich möchte hören, dass jemand sagt: So ein geiler Sprung. Einfach so. Ohne den Zusatz ‚Trotz oder gerade wegen deiner Prothese.‘“
Markus Rehm
Prothesen-Weitspringer
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„Seit Jahren träume ich davon, dass die Olympischen Spiele mit einem Staffellauf mit olympischen und paralympischen Athleten beendet werden“, sagte er. Sein großes Ziel: „Ich möchte zeigen, dass es bei uns sehr divers ist. Die Leute können auch bei uns eine coole Show sehen und bezahlen dafür viel weniger.“ Wenn das von immer mehr Menschen erkannt würde, hätte das seiner Ansicht nach einen großen Wert für die Inklusion. „Ich will nicht auf die Schulter gekloppt und gesagt bekommen: Oh, toll, dass du noch Sport machst. Dann sage ich: Genau, du machst auch Sport. Ich mache Sport. Nur weil ich da so ein Ding trage, kann ich natürlich Sport machen“, meinte er. „Ich möchte hören, dass jemand sagt: So ein geiler Sprung. Einfach so. Ohne den Zusatz ‚Trotz oder gerade wegen deiner Prothese.‘“
Die Chance darauf hat Rehm am 4. September (20.35 Uhr/ARD) auf der ganz großen Bühne. Dann kann er zum vierten Mal Olympia-Gold holen – und womöglich die magische Neun-Meter-Marke knacken.