Across America: Reist gewinnt das härteste Radrennen der Welt
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Race Across America
«Ich habe noch nie so gelitten»: Nicole Reist triumphiert als beste Frau im härtesten Radrennen der Welt5000 Kilometer und 55’000 Höhenmeter nonstop von der amerikanischen Westküste an die Ostküste: Die Schweizerin Nicole Reist erreicht das Ziel des Race Across America nach 10 Tagen, 4 Stunden und 13 Minuten als schnellste Frau.

Noah Diesing
Es war ein Krimi, wie ihn wohl nur das Race Across America schreiben kann. Am Samstagmorgen, kurz nach 2.30 Uhr (MEZ), fuhr die Schweizerin Nicole Reist mit einer Finisherzeit von 10 Tagen, 4 Stunden und 13 Minuten ins Ziel des weltweit längsten Extrem-Radrennens, welches über fast 5000 Kilometer und 55’000 Höhenmeter nonstop von der amerikanischen Westküste an die Ostküste führt. Reist holt sich damit zum dritten Mal den Sieg bei den Damen und sorgt mit dem dritten Platz im Gesamtklassement für Furore.
Bis am Donnerstagabend führte die 37-Jährige seit Tagen und mit grossem Vorsprung das gesamte Männerfeld an, bis ein Sturz vor dem Ziel den Traum vom Overallsieg und vom internationalen Frauen-Speedrekord jäh platzen liess. 2800 der 3037 Meilen (4888 Kilometer) hatte sie schon geschafft, befand sich mitten in den Appalachen, ihrem Lieblingsgebirge, auf dem Weg zur grossen Sensation – dann geschah es: Bei einem Ausweichmanöver stürzte sie und hatte danach starke Schmerzen im Oberschenkel.

Noah Diesing
Rund vier Stunden dauerte es, bis Reist von der Teamärztin durchgecheckt wurde und wieder fit genug war, um weiterzufahren. Diese Pause war selbst für ihren grossen Vorsprung zu lange. Just am Ende der Standzeit überholte der Australier Allan Jefferson die Schweizerin. Ein-Kopf-an-Kopf-Rennen begann, Nicole Reist konnte ihren Konkurrenten nach kurzer Zeit wieder überholen und ihn während Stunden auf Distanz halten. Ein weiterer Sturz aus dem Stand – Reist konnte wegen ihrem Leiden am Oberschenkel nicht rasch genug aus dem Pedal ausklicken – sowie anhaltende Schmerzen entschieden den Krimi letztlich nach rund 2950 Meilen. Die Schweizerin konnte ihr Tempo nicht mehr aufrechterhalten und musste den Australier ziehen lassen. Es folgte der komplette Einbruch, sodass Reist gar wenige Meilen vor dem Ziel noch vom Tschechen Svata Bozak überholt wurde.
Das härteste Rennen ihres Lebens sei es gewesen: «Ich habe noch nie so gelitten!» Für einmal ging das Drehbuch der erfolgsgewohnten Ausnahmeathletin nicht ganz auf. «Natürlich bin ich enttäuscht, dass der zum Greifen nahe Traum des Gesamtsieges so kurz vor dem Ziel geplatzt ist», erklärt Nicole Reist nach ihrer Ankunft in Annapolis sichtlich gezeichnet. «Allerdings bin ich froh, dass ich es unter den gegebenen Umständen überhaupt bis ins Ziel geschafft hab und nach 2016 und 2018 meinen dritten Frauensieg holen konnte.»
Die 37-jährige Nicole Reist ist passionierte Ultracyclerin, also Langdistanz-Radrennfahrerin, und lebt in Weisslingen, nahe Winterthur. Sie ist mehrfache Weltmeisterin, Europameisterin und Schweizermeisterin und hat seit 2012 jedes Ultracycling-Rennen über mehrere Tausend Kilometer nonstop gewonnen, zu dem sie gestartet ist – unter anderem schon zweimal das legendäre Race Across America. Ab dem 9. August plant sie eine Teilnahme am Race Around Austria über 2200 Kilometer. Trotz ihres umfangreichen Trainingspensums arbeitet sie Vollzeit als Hochbautechnikerin in einem Architekturbüro

Noah Diesing
So grenzt es denn auch fast an ein Wunder, dass Reist trotz ihrer Adduktorenprobleme und einer gebrochenen Rippe weiterfahren konnte. Allein ihr Wille trieb sie an. Gehen konnte sie kaum mehr, in die Pedale treten ging – irgendwie. Allerdings brauchte Reist jeweils die Unterstützung ihrer Crew, um aufs oder vom Velo zu steigen. Überhaupt sei die Zielankunft der Verdienst ihres 11-köpfigen Begleitteams. «Ohne meine grossartige Crew, die mich während dem ganzen Rennen begleitet, mich während 24 Stunden am Tag betreut und unterstützt hat, und in diesem Schlussteil sämtliche Register zog, um mich zu motivieren, hätte ich das nicht geschafft.»
500 Kilometer Radfahren pro TagDie Müdigkeit ist kaum verwunderlich, hat Reist in den vergangenen 10 Renntagen doch nur gerade 9 Pausen gemacht, in denen insgesamt rund 9 Stunden Schlaf zusammenkamen – und dies bei durchschnittlich rund 500 Kilometer Radfahren pro Tag! Als einzige Frau, die in der Kategorie Solo U50 das Ziel erreicht hat, steht Nicole Reist mit ihrer Rennzeit von 10 Tagen, 4 Stunden und 13 Minuten und einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 12.44 Meilen pro Stunde (20.02 km/h) dennoch zuoberst auf dem Frauen-Podium und setzt ihre über 10-jährige Siegesserie weiter fort.
Das Race Across America ist das härteste und längste Ultracycling-Rennen der Welt. Die Strecke führt über 4888 Kilometer (3000 Meilen) und 55’000 Höhenmeter quer durch die USA, von Oceanside in Kalifornien an der Westküste durch 12 Staaten bis nach Annapolis in Maryland an der Ostküste, nonstop. Heuer starteten rund 150 Fahrer und Fahrerinnen in 2er-, 4er- oder 8er-Teams, dazu 29 als Soloathleten, wovon 3 Frauen. Die maximal erlaubte Zeit für Solofahrer beträgt 12 Tage. Jedes Jahr scheitern über 50 Prozent der Startenden, gut 70 Prozent der erstmalig Startenden (Rookies) erreichen das Ziel nicht. In bisher 39 Austragungen konnten nur gerade 37 Frauen dieses Rennen als Solostartende erfolgreich beenden.
Ihre einzige direkte Konkurrentin hatte das Rennen schon nach gut 600 Meilen aufgeben müssen. Die dritte Athletin im Feld, die in der Ü50-Kategorie fuhr, lag fast 500 Meilen hinter Reist zurück. Für den ursprünglich angepeilten, internationalen Frauen-Geschwindigkeitsrekord, für den sie bis zu ihrem Sturz noch immer knapp auf Kurs war, reichte es nach diesem dramatischen Finish natürlich nicht. Mit ihrem dritten Platz im Overall-Klassement bestätigt Nicole Reist dennoch einmal mehr ihre Dominanz als mit Abstand weltbeste Frau im Ultracycling. (swe)