US-Open-Siegerin Raducanu: Sensation gewinnt
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Was ist der Sport? Was macht ihn aus, wie schafft er es, sich seine Faszination zu erhalten? Und warum nur ist er nicht kaputtzukriegen, sosehr es viele in diesem Geschäft auch mit aller Macht versuchen?
Eine Antwort darauf verrät uns vielleicht der Blick auf die US Open dieses Jahres. Die an diesem Wochenende mit zwei Endspielen zu Ende gingen, die viel verraten über das, was Sport dann doch so großartig werden lässt.
Bei den Männern war alles angerichtet für die ganz große Eloge auf den Topfavoriten Novak Djoković. Gewinnt er das Finale, schafft er als Erster seit Rod Laver 1969 den Grand Slam innerhalb eines Kalenderjahrs, es wäre ein historischer Moment gewesen, und die Berichte dazu waren schon vorgeschrieben.
Doch im möglicherweise wichtigsten Spiel seiner so unglaublich erfolgreichen Tenniskarriere, in dem Spiel, mit dem sich Djoković sein eigenes Denkmal gesetzt hätte, in diesem Spiel ist er überraschend völlig chancenlos gegen Daniil Medwedew.
Und plötzlich ist dieser Unnahbare, diese Tenniswand, dieser von der Öffentlichkeit eher wenig geliebte und zuweilen leicht verschrobene Superstar ein Häufchen Elend, er weint, die Leute spenden ihm stehende Ovationen, wie er sie im Erfolgsfall vielleicht nie bekommen hätte.
Djoković ist keine Maschine mehr, er ist der Mensch Novak Djoković. Aus dem Unnahbaren ist der Nahbare geworden.
Vergleiche mit Boris BeckerUnd am Tag zuvor passiert das, was im Sport eigentlich nicht mehr passieren darf. Eine 18-Jährige, unbekümmert, in der Weltrangliste irgendwo jenseits der 100 platziert, geht durch das Turnier wie das Messer durch die Butter.
Emma Raducanu hatte noch nie bei den US Open gespielt, gewinnt als Qualifikantin ein Grand-Slam-Turnier, im Endspiel gegen den anderen Teenager Leylah Fernandez. Ein Tenniswunder. Dazu als Britin, aus diesem Land mit so großer Tennistradition, dessen Hoffnungen immer wieder enttäuscht wurden. Die Tennislady Virginia Wade hatte mal in Wimbledon das Frauen-Einzel gewonnen. Das war 1977.
Bei Raducanu sind Vergleiche zu Boris Becker und seinem Wimbledonsieg als Ungesetzter 1985 gezogen worden. Aber ihr Erfolg ist noch größer, noch unwahrscheinlicher. Becker, der berühmteste 17-Jährige aus Leimen, hatte zuvor bereits das Rasenturnier in Queens gewonnen, er galt trotz seiner Jugend schon als einer der besten Rasenplatzspieler der Welt. Raducanu hatte bislang nur die vierte Runde in Wimbledon im Sommer vorzuweisen.
Sport hat dann seine besten Augenblicke, wenn er alles über den Haufen wirft, was erwartet, geplant, vorhergesehen war. Wenn in der Sportberichterstattung das Wort »Sensation« hervorgeholt wird. Wenn Übermächtige straucheln, wenn die Kleinen Großes leisten.
Vor allem deswegen erinnert sich jeder und jede auch nach 50 Jahren an die 16-jährige Ulrike Meyfarth, die in München zu Hochsprung-Gold sprang. Deswegen wird Jürgen Sparwasser aus Magdeburg bis an sein Lebensende auf das eine Tor angesprochen, das er 1974 für die DDR gegen die Bundesrepublik erzielte. Deswegen weiß im deutschsprachigen Raum fast jeder, was mit dem Satz »I werd narrisch« gemeint ist.
Emma Raducanu hat sich mit ihrem Erfolg in diese Serie eingereiht. Was da am Samstag in New York passiert ist, ist ein großer Moment der Sportgeschichte.
Der Erfolg ist planbar, das ist ein Glaubensbekenntnis im Leistungssport, und häufig ist es auch genau so. Mit einer Armada von Fachleuten, mit modernster Technik, mit Datenanalysen, die bis ins Atom reichen, mit dem Versuch, den Zufall auszutreiben, hat sich der Sport zu einer Raketenwissenschaft entwickelt. Wer das Know-how hat, gewinnt. Geld ist in diesem Fall oft ein Synonym für Know-how. Wettbewerb? Ein hehres Wort. Ein verlogenes Wort.
Dann kommt plötzlich eine Emma Raducanu daher. Und man weiß wieder, warum man diesen verfluchten Sport so liebt.