Joël Le Scouarnec – die ganze Geschichte des Kinderschänders

Hat mutmasslich über 300 Menschen sexuell missbraucht: Joël Le Scouarnec. Bild: keystone
Am Montag beginnt im französischen Vannes der Prozess gegen Joël Le Scouarnec. Der ehemalige Arzt wird beschuldigt, während seiner Berufstätigkeit etwa 300 Kinder sexuell missbraucht zu haben.
24.02.2025, 19:39
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«Beim Rauchen meiner Morgenzigarette dachte ich darüber nach, dass ich ein grosser Perversling bin. Ich bin gleichzeitig ein Exhibitionist, Voyeur, Sadist, Masochist, Fetischist und Pädophiler. Und darüber bin ich sehr glücklich.»
Tagebucheintrag Joël Le Scouarnec
Diese Zeilen stammen aus einem Tagebucheintrag von Le Scouarnec aus dem Jahr 2004, in dem er sein krankhaftes Selbstbild offenlegt. Zu diesem Zeitpunkt lag der erste mutmassliche Missbrauch bereits 17 Jahre zurück. Dennoch vergingen weitere 13 Jahre, bis er letztlich verhaftet und vor Gericht gestellt wurde.
Über einen Zeitraum von 30 Jahren konnte Le Scouarnec ungehindert mehr als 300 Opfer missbrauchen – das Durchschnittsalter der betroffenen Kinder liegt bei 11 Jahren. Dies macht ihn zu einem der vermutlich schlimmsten Kinderschänder der Welt.
Inhaltsverzeichnis
Eine normale Kindheit
Am 3. Dezember 1950 kommt in Paris ein Kind zur Welt, das vermeintlich irgendwann die Kindheit von Hunderten zerstören wird: Joël Le Scouarnec. Aufgewachsen ist er in einer bescheidenen, katholischen Familie. Sein Vater arbeitete als Schreiner und später im Bankensektor. Seine Mutter war Hausmeisterin, bevor sie sich der Erziehung ihrer drei Kinder widmete.
«Wir hatten eine wunderbare Kindheit», wird sein jüngerer Bruder in den Medien zitiert. Er «verstehe nicht», wie sich sein Bruder so entwickeln konnte, da «alle Geschwister gleich aufgewachsen» seien. Das einzig Auffällige sei gewesen, dass «er nie über sein Privatleben gesprochen» habe. Doch er sei ein Einzelgänger gewesen, der seine Tage mit Lesen verbracht habe. Ein in französischen Medien veröffentlichtes Gutachten beschreibt ihn als jemanden, der in einer klassischen Familie aufwuchs, in der der autoritäre Vater und die Schwierigkeit, Gefühle auszudrücken, deutlich spürbar waren.
Bereits als 10-Jähriger träumte Le Scouarnec davon, Arzt zu werden – ein Ziel, das er auch erreichte. Nach einem Medizinstudium in Paris absolvierte er zwischen 1976 und 1981 ein Praktikum an der medizinischen Fakultät von Nantes und spezialisierte sich später auf viszerale und gynäkologische Chirurgie. Während des Studiums lernte er seine spätere Frau kennen, die als Pflegerin arbeitete.
Gemeinsam bauten sie sich eine gutbürgerliche Existenz in einem Herrenhaus auf dem Land in der Nähe von Paris auf, und lebten mit ihren drei Söhnen ein scheinbar erfülltes Leben mit ausgedehnten Reisen und Opernbesuchen. Als Vater soll er zwar darauf geachtet haben, dass seine Kinder zur Schule gehen, aber zu Hause sei er kaum anwesend gewesen. Die Ehe beginnt nach und nach zu kriseln. Gemäss Medienberichten habe Le Scouarnec in dieser Zeit auch zwei Affären gehabt. Doch wann begann der sexuelle Missbrauch?
Bis zum täglichen Missbrauch
Laut polizeilichen Vernehmungen wurde seine Pädophilie durch die Beziehung zu seiner Grossnichte geweckt. Als Erstes vergangen habe er sich aber an zwei seiner Nichten. Davon soll seine Frau bereits seit Mitte der Neunzigerjahre gewusst haben, obwohl sie dies öffentlich stets abstritt. In einem Bericht wird erwähnt, dass sie der Mutter des ersten Opfers erklärte, «dass viele Männer diese Neigung hätten». In anderen Medienberichten heisst es, Le Scouarnec habe sich «unter Tränen» bei der Mutter der missbrauchten Nichte entschuldigt. Seit diesem Vorfall sei es praktisch zu einer familiären Omerta gekommen: Obwohl die Verwandtschaft von den «Neigungen» ihres «Tonton Joël», Onkel Joëls, wusste, habe man nach aussen geschwiegen.
Auch in seinem beruflichen Umfeld nahm der Serienmissbrauch seinen Lauf – vermutlich erstmals im Krankenhaus von Loches. Ehemalige Kolleginnen und Kollegen beschreiben ihn als charmant, einsam und fast unsichtbar, zugleich aber als seltsam, da er häufig nachts ohne Dienst in den Krankenhausfluren umherwanderte. Niemand bemerkte, dass er fast täglich kleine, wehrlose Patienten missbrauchte – sei es im Operationssaal oder in den Patientenzimmern. Meist während die Opfer noch unter Narkose standen oder kurz vor dem Aufwachen waren. Der Staatsanwalt Stéphane Kellenberger betont, dass Le Scouarnec sich überaus bemüht habe, seine Taten zu verheimlichen.
«Man muss geduldig sein und eine Chance abwarten.»
Tagebucheintrag Joël Le Scouarnec
So gaben einige Opfer an, dass sie das Gefühl hatten, seine «Gesten» und «Berührungen» seien medizinische Untersuchungen. In den Tagebüchern, die bei Hausdurchsuchungen gefunden wurden, dokumentierten die Ermittler jedoch explizite Beschreibungen von Masturbation an kleinen Jungen sowie analer und vaginaler Penetration mit dem Finger. Obwohl Le Scouarnec in seinen Anhörungen den Vorwurf der Vergewaltigung bestreitet, lautet die offizielle Schreckensbilanz: In rund 15 Krankenhäusern, in denen er tätig war, soll er über 300 Opfer missbraucht haben – 299 davon wurden von den Ermittlern befragt. Das Durchschnittsalter der Opfer liegt bei 11 Jahren.
Doch bereits 2004 hätte alles aufhören können.
Verurteilt ohne Berufsverbot
2004 geriet Le Scouarnec erstmals ins Visier internationaler Ermittler, als das FBI ein Pädophilennetzwerk auflöste. Er wurde auffällig, weil er pädopornografische Dateien von einer russischen Website heruntergeladen hatte. Noch vor einer Hausdurchsuchung versteckte er aber alle Beweismittel an seinem Arbeitsplatz – Beweise, die die Polizei erst 2017 auffand.
Vor Gericht gab er damals zu, die Dateien aus einer «vorübergehenden Schwäche» heruntergeladen zu haben. 2005 wurde er wegen Besitzes von Kinderpornografie zu einer viermonatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt – ohne dass eine Therapie angeordnet oder ihm die Arbeit mit Kindern untersagt wurde. Sein Arbeitgeber erfuhr nichts von der Verurteilung, und Le Scouarnec kletterte weiter die Karriereleiter hinauf, bis er sogar zum Chefarzt der Chirurgie aufstieg.
Die einzige unmittelbare Konsequenz war, dass ihn seine Frau daraufhin verliess. Von den ehelichen Zwängen befreit und mit einem gestärkten Gefühl der Unantastbarkeit verübte er weiterhin seine Taten – bis sich schliesslich zum ersten Mal ein Opfer wehrte.
Die zweite Verhaftung
Die Ermittlungen nahmen 2017 Fahrt auf, nachdem eine Nachbarin anzeigte, dass ihre sechsjährige Tochter im Garten missbraucht worden sei. Am 2. Mai 2017 durchsuchte die Polizei deswegen sein Haus und fand dabei zahlreiche obskure Gegenstände: Sexspielzeug, Sexpuppen, Perücken und erhebliche Mengen Kinderpornografie. Zudem stiessen die Ermittler auf Fotomontagen, die den Chirurgen in Verbindung mit Kinderfotos sowie Hinweise auf sadomasochistische und zoophile Aktivitäten mit seinen Haustieren zeigten. Bei der Durchsuchung wurden auch fast 1700 Seiten Tagebuch aufgefunden.
So kam es, dass Joël Le Scouarnec erst im Alter von 66 Jahren verhaftet wird. Zu diesem Zeitpunkt galt er als renommierter viszeraler Chirurg in seiner Gemeinde und war in der Öffentlichkeit völlig unverdächtig. In den folgenden Jahren sollte er als einer der vermutlich schlimmsten Kinderschänder weltweit bekannt werden – ein Fall, mit dem kein anderer vergleichbar ist.
Anders als bei anderen Fällen sind die Opfer von Le Scouarnec jedoch am Leben – und kämpfen um Gerechtigkeit.
Die Gerichtsverhandlung
Gegen Le Scouarnec werden zwei Prozesse geführt. Der erste, der bereits 2020 stattfand, führte zu einer Verurteilung wegen Vergewaltigung und sexueller Übergriffe an seinen Nichten, der Tochter der Nachbarin sowie an einem Patienten – für diese Vergehen wurde er zu 15 Jahren Haft verurteilt.
Nun beginnt am 24. Februar die Verhandlung wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung bei 299 weiteren mutmasslichen Opfern – ihm drohen 20 Jahre Haft. Viele der Betroffenen berichten, dass sie infolge des Missbrauchs unter psychischen Störungen, Suchtproblemen und erheblichen Schwierigkeiten im Umgang mit ihrem Körper und ihrer Sexualität leiden. Eines der Opfer hat sich 2021 mit einer Überdosis das Leben genommen. Er wurde als 10-Jähriger von Le Scouarnec missbraucht. Laut seinen Grosseltern habe er es nicht ausgehalten, was die Polizei in den Notizbüchern des Arztes fand. «Wir versuchten, ihn zu unterstützen, aber er weigerte sich, darüber zu sprechen. Es hat ihn umgebracht», sagten die Grosseltern in Medienberichten.
Obwohl Le Scouarnec die meisten Verbrechen gesteht, bestreitet er weiterhin die Vergewaltigungen. Die Untersuchungsbehörden sind daran, ihm das Gegenteil zu beweisen.
Im Prozess wird auch die Frage erörtert, wie es möglich war, dass ein verurteilter Sexualstraftäter über Jahrzehnte hinweg ungehindert mit Kindern arbeiten konnte – und ob die Krankenhäuser als Arbeitgeber hätten eingreifen können. Der viermonatige Mammutprozess wird in mehreren Etappen geführt, in denen sowohl Opfer als auch ehemalige Führungskräfte der betroffenen Krankenhäuser zu Wort kommen. Sollte es zu keinen weiteren Verzögerungen kommen, ist eine Urteilsverkündung für den 6. Juni geplant.
(kma)
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