Am Heiligen Abend singen Ukrainer in Teufen – kath.ch
Heute vor zehn Monaten hat Putin die Ukraine angegriffen. Kurz danach kamen Ukrainerinnen und Ukrainer nach Teufen. Sie blicken ambivalent auf Weihnachten. Denn von der Hoffnung auf «Frieden auf Erden» ist in der Ukraine wenig zu spüren. Am Heiligen Abend singen sie «Stille Nacht» auf ukrainisch: «Tichaja Notsch».
Wolfgang Holz
Marija ist gerade mit dem Küchendienst in der katholischen Pfarrgemeinde Teufen-Bühler-Stein fertig. Sie hat bei der Seniorenweihnachtsfeier mitgeholfen. Viele waren gekommen, um unter dem Christbaum im grossen Saal der Pfarrei zu essen und sich auszutauschen.
Besucht einen DeutschkursVor neun Monaten ist sie mit ihren beiden Kindern, Anna (13) und Danyl (8), ins Appenzellerland gekommen. Sie wurde von einer Schweizer Familie herzlich aufgenommen und kann in einer Ferienwohnung leben. Sie kümmert sich um ihre Kinder, besucht einen Deutschkurs, strahlt voller Energie.
«Deutsch kann ich noch nicht so gut», sagt die 35-Jährige und lächelt übers ganze Gesicht. Dann switcht sie über auf Englisch, bis es schliesslich Russisch aus ihr hervorsprudelt. Manchmal geraten einige Brocken Ukrainisch dazwischen.
«Wir telefonieren täglich vier- bis fünfmal.»
Marija, 35, Mutter aus Saporishja
Die Verwaltungsangestellte aus Saporischja sagt, sie habe es relativ gut hier. Ihr Mann blieb in der Ukraine zurück. Er ist aber nicht von der ukrainischen Armee eingezogen worden – weil er der Reserve angehört.
«Wir telefonieren täglich vier- bis fünfmal», erzählt sie. Natürlich habe sie Angst um ihren Mann. «Das Leben in der Ukraine ist total unvorhersehbar. Man geht abends ins Bett und weiss nicht, ob man morgens heil aufwacht.»
Heute Morgen wieder Bomben eingeschlagenDer Grund: Die ständigen Bomben und Raketen, die überall einschlagen. «Erst heute Morgen sind wieder drei grosse Bomben explodiert», berichtet Marija. Die Frontlinie ändere sich täglich. Auch Strom, Heizung und fliessendes Wasser würden ständig ausfallen. «Die Menschen auf dem Land sind schwerer von den Energiekrisen betroffen als die in den Städten.»
Über die Schweiz ist Marija voll des Lobes. «Die Schweiz ist so ein beeindruckendes Land. Ich begegne freundlichen, offenen Menschen.» Ihre Kinder würden in der Schule bestens versorgt. Sie könnte es sich gut vorstellen, hier auf Dauer zu leben. Ihr Mann wolle aber in der Ukraine bleiben. Diese Zerrissenheit deprimiere sie manchmal und lasse sie grosses Heimweh spüren: «Wir wollten ja eigentlich nicht flüchten.»
«Legitim von Ukraine, alle eroberten Gebiete zurückzuerobern»Was den Krieg in ihrer Heimat mit Russland angeht, stellt Marija klar, dass die Ukraine ein souveränes und von Russland unabhängiges Land sei. «Deshalb ist es legitim, dass die Ukraine alle von Putin eroberten Gebiete zurückerobern will.» Dass dies ein langer, schmerzhafter Weg werden kann, ist ihr bewusst.
Wann der Krieg zu Ende sein wird, kann auch Theodor nicht sagen. «Das hängt von Gott ab und vom ukrainischen Volk», ist er überzeugt. Und natürlich von Russland. «Vielleicht sehen die Russen auch irgendwann ein, dass ihnen der Krieg nicht viel bringt. Dass es auch um ihre Freiheit von Putin geht», meint der 30-Jährige.
«Die Gesetze hier in der Schweiz sind von den Menschen für die Menschen geschaffen worden.»
Theodor, 30, Priester
Der junge Priester hat vier Kinder und fühlt sich in der Schweiz sehr wohl. «Hier kann man sehr schön leben. Die Gesetze hier sind von den Menschen für die Menschen geschaffen worden. Alles ist so sauber, und wenn mein Kind auf dem Trottoir geht, kann ich mich darauf verlassen, dass die Autofahrer achtgeben», lobt der junge Familienvater seine neue Heimat.
Gelernter Automechaniker hat Arbeit gefundenDer gelernte Automechaniker hat einen Job in einer Firma für Bodenbeläge gefunden. Die Arbeit gefällt ihm. «Bei mir steht es deshalb derzeit 50:50, ob ich wieder zurückgehen werde oder ob ich hier bleibe.» Der Wunsch, zurückzukehren, sei aber nach wie vor vorhanden. «Denn die Ukraine ist eine hervorragende Nation, und die Ukrainer lieben es, gut zu leben.»
Olga ist die Dritte im Bunde, die ins Teufner Pfarreizentrum gekommen ist, um über ihre alte und neue Heimat zu sprechen. Sie ist vor kurzem 70 Jahre alt geworden. Sie war früher nicht nur Geographie- und Naturkundelehrerin an der Schule und an der Universität, sie kennt sich auch bestens in russischer und ukrainischer Geschichte aus. «Die Ursprünge Russlands liegen in der Kiewer Rus, von wo aus die Kiewer Fürsten das Christentum und die Kultur nach Russland gebracht haben.»
Olga hofft auf einen baldigen FriedenSie verurteilt den Überfall und die Aggression Putins auf die Ukraine aufs Schärfste. Gleichzeitig findet sie es «furchtbar», dass täglich Menschen in der Ukraine wegen des Kriegs sterben. Deshalb hofft sie auf einen baldigen Frieden.
«Schon Bismarck hat gesagt, dass eine Unterschrift Russlands nicht das Papier wert ist, das unterzeichnet wurde.»
Olga, 70
«Allerdings lassen wir uns in der Ukraine von niemandem vorschreiben, wie wir leben wollen», sagt sie selbstbewusst und lächelt verschmitzt. Sollte es zu einem Friedensvertrag mit Russland kommen, fürchtet sie, dass Moskau sich nicht daran halten werde. «Schon Bismarck hat gesagt, dass eine Unterschrift Russlands nicht das Papier wert ist, das unterzeichnet wurde.»
Gregorianischer Kalender immer gefragterUnd was ist jetzt mit Weihnachten, das vor der Tür steht? Freuen sich die Ukrainerinnen und Ukrainer in Teufen auf das Fest der Geburt Christi? «Die meisten Ukrainer tendieren heutzutage zum gregorianischen Kalender und feiern Weihnachten wie in der Schweiz am Heiligabend und am 25. Dezember», sagt Olga.
Insbesondere an Heiligabend werden viele Speisen aufgetischt: Süsser Brei, Piroggen, Kohlrouladen, Gebäck, Quark, Kompott und vieles mehr. «Wir haben natürlich auch einen Christbaum.» Selbst «Stille Nacht, heilige Nacht» wird in Gestalt von «Tichaja Notsch» gesungen. Und natürlich gibt es auch Geschenke: Für die Kinder Spielsachen und viel Süsses.
«Weihnachten wird für uns dieses Jahr genauso traurig sein, wie es jeder Feiertag dieses Jahr gewesen ist.»
Marija
Trotzdem will bei Olga, Marija und Theodor keine so rechte Vorfreude auf Weihnachten aufkommen. «Weil Weihnachten für uns dieses Jahr genauso traurig sein wird wie es jeder Feiertag dieses Jahr gewesen ist – weil wir nicht mit unseren Familien feuern können», sagt Marija. Und schaut nachdenklich durchs Fenster in die verschneite Landschaft.
© Katholisches Medienzentrum, 24.12.2022
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