Olympia 2024: Ehammer verpasst im Weitsprung eine Medaille als ...
Der Ostschweizer Zehnkämpfer wollte in einer Einzeldisziplin brillieren. Er landet als Vierter mit 8,20 m um 14 Zentimeter neben dem Podest.
Als Vierter reist man immer mit dem Gefühl ab, etwas verpasst zu haben. Das dürfte für Simon Ehammer umso mehr gelten, als er im Weitsprung nie zu der Leichtigkeit fand, die ihn an seinen guten Tagen auszeichnet. Man hatte das Gefühl, dass der Schweizer nie richtig in den Wettkampf fand. Der erste Versuch war ungültig, der zweite war sein bester, doch auch dieser konnte den Athleten nicht beflügeln.
Gold gewann wie an den letzten Sommerspielen der Grieche Miltiadis Tentoglou, der zurzeit eine Klasse für sich ist. Ehammer verpasste das Podest mit 8,20 m um immerhin 14 Zentimeter. Auch der jeweils zweitbeste Versuch der beiden anderen Medaillengewinner hätte noch gereicht, um den Schweizer zu distanzieren.
Ehammer ist eine Ausnahmeerscheinung in einer Sportart, in der hochspezialisierte Menschen endlos daran arbeiten, etwas ganz besonders gut zu können: weit oder hoch zu springen, Kugeln oder Disken in den Himmel zu werfen, schnell zu rennen. Ehammer ist ein Multitalent, seine Spezialität ist es, als Mehrkämpfer sehr vieles sehr gut zu können. Und den Weitsprung beherrscht er ganz besonders gut.
Eben doch kein Herkules
Das fiel erstmals auch einer breiteren Öffentlichkeit auf, als er 2022 mitten im Mehrkampf von Götzis 8,45 m weit segelte. Das war Schweizer Landesrekord und innerhalb eines Zehnkampfs sogar Weltrekord. Der junge Mann legte sich deshalb für die folgenden Monate ein spezielles Programm fest. Im Juli startete er an den WM im Weitsprung – und gewann Bronze. Im August trat er an den EM im Zehnkampf an – und gewann Silber.
Der Schweizer war der erste Mann, der an internationalen Titelkämpfen sowohl im Mehrkampf als auch in einer Einzeldisziplin aufs Podest kletterte. In diesem Jahr wiederholte er das, er wurde Hallenweltmeister im Siebenkampf und gewann EM-Bronze im Weitsprung. Bei den Frauen war übrigens die Amerikanerin Jackie Joyner-Kersee einst noch eine Klasse besser. Sie gewann an Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften mehrfach Gold im Siebenkampf und im Weitsprung. 1987 (WM) und 1988 (Olympia) schaffte sie beides sogar an einem Anlass.
Ehammer ist alles andere als zurückhaltend, wenn es um die Verkündung seiner Ziele geht. Der «NZZ am Sonntag» sagte er 2022 in einem Interview: «Ich will Olympiagold, ich will der erste Mensch sein, der 9 Meter weit springt, ich will im Zehnkampf 9000 Punkte erreichen.» In Paris wollte er an seinen Ansprüchen Mass nehmen und in beiden Disziplinen antreten. Doch er musste einsehen, dass er eben doch kein Herkules ist.
Alles fing im vergangenen Jahr mit Beschwerden in der Schulter an, die ihn beim Werfen behinderten. Nach der Saison liess er sich operieren, monatelang konnte er die Schulter nicht belasten und deshalb nur eingeschränkt Kraft trainieren. Dann gewann er im März Gold an den Hallen-WM und dachte, er sei wieder voll da.
Sein Trainer René Wyler sagt, dieser Titel sei fast ein Wunder gewesen und habe dazu geführt, dass Ehammer die Schwierigkeiten auf dem Weg zurück etwas unterschätzt habe. In der Halle gibt es nur eine Wurfdisziplin, das Kugelstossen, wo deutlich weniger Kräfte wirken als beim Werfen von Diskus und Speer. Im Frühling trat Ehammer dann in Götzis zum ersten Zehnkampf nach der Operation an, startete fulminant – und erlebte in den Würfen ein Waterloo.
In Götzis brach er weinend den Zehnkampf ab
Ehammer ist ein Athlet, der stark von Emotionen lebt. Läuft es gut, surft er auf einer Welle durch den Wettkampf. In Götzis hatte er nach dem ersten Tag eine phänomenale Punktzahl im Hinterkopf. Dann missriet das Diskuswerfen, und etwas später kam er auch mit dem Speer nicht auf Weite. Da wurde er von negativen Emotionen mitgerissen, bekam einen Weinkrampf – und gab den Wettkampf auf.
Eigentlich hätte er da noch genug Zeit gehabt, auch die Wurfdisziplinen solide aufzubauen. Doch je näher die Spiele rückten, desto mehr begann Ehammer zu hadern, wenn im Training ein Speer oder ein Diskus nicht so weit flog, wie der Athlet es gerne gehabt hätte. Im Juni wurde die Reissleine gezogen: Mit seinem Betreuerteam entschied sich der Athlet, in Paris alles auf den Weitsprung zu setzen.
Das war für Ehammer eine Erlösung, für seine Angehörigen aber bedeutete es einigen Aufwand. Denn Eltern und Freundin hatten schon vor der Saison Tickets für den Olympia-Zehnkampf gekauft. Jetzt mussten sie diese wieder loswerden und Karten für den Weitsprung finden. So ist das halt, wenn man ein Multitalent in der Familie hat.
Ehammer trainierte nach dem Entscheid nicht völlig anders, liess aber die Würfe weg. Dadurch konnte er ein wenig länger schlafen und das Krafttraining anpassen. Als Weitspringer braucht er keinen muskelbepackten Oberkörper, er konnte sogar zwei, drei Kilogramm abnehmen, um leichter zu fliegen.
Im Training ist er auch nicht viel häufiger gesprungen; der Trainer Wyler achtet stets darauf, so schonend wie möglich zu arbeiten. Dabei helfen kurze, sehr explosive Übungen, etwa über die Hürden. Ziel war es, dass der sehr kraftvolle Springer Ehammer mit etwas mehr Souplesse auf den Balken trifft. Zu einer Medaille in Paris haben diese Anstrengungen nicht gereicht.