Sarina Wiegman: Ein Double dank Akribie und offener Kommunikation?
Eine Heim-EM gewinnen: Sarina Wiegman weiß, wie es geht. Schon vor fünf Jahren durfte sie mit den Niederlanden die Trophäe in die Luft stemmen. Beim 4:2 gegen Dänemark zeigten die Niederlande den mutigen Offensivfußball, den Wiegman ihrem Team in den vier Jahren als Trainerin hatte spielen lassen. Auch mit England pflegt die akribische Wiegman einen ähnlichen Stil und will nun das "Double" gewinnen.
Die unpopulären Entscheidungen scheut Sarina Wiegman nicht. Vor der EM war eines der großen Themen in England, ob Ex-Kapitänin Steph Houghton mitfahren würde. Wiegman hatte die Kapitänsbinde der langjährigen Abwehrchefin abgenommen und an die jüngere Leah Williamson weitergegeben; dass sie nicht gesetzt sein würde, war klar. Dazu kam eine Verletzung, die 34-jährige Houghton war nicht ganz fit und hatte in der Saison auch einige Spiele verpasst.
Trotzdem hätten viele sie gerne im Kader gesehen, der Guardian schrieb etwa: "Selbst eine halb-fitte Steph Houghton ist besser als keine Steph Houghton". Wiegman ließ sich davon nicht beirren, erklärte, Houghton sei noch nicht so weit, auf dem höchsten Niveau zu spielen und wollte auch das Argument, sie sei eine starke Leaderin neben dem Platz, nicht gelten lassen.
Auch in den Niederlanden ist bereits bekannt, dass die Anzahl an Länderspielen oder die Erfahrung für Wiegman keine Rolle spielen. 2017 traf sie eine ähnliche Entscheidung sogar während des Turniers: Nach zwei Gruppenspielen verlor Mandy van der Berg die Kapitänsbinde und den Startelfplatz, worauf sie sich nach der EM aus der Nationalmannschaft zurückzog. Auch das eine Entscheidung, die nicht bei allen gut ankam, sich aber auszahlte.
Wiegman urteilt nach dem Leistungsprinzip, sie ist für ihren scharfen analytischen Fußballverstand bekannnt. Sie hat schon Erfahrung in der Beurteilung von Spielerinnen, hat nach ihrer aktiven Karriere als Mittelfeldspielerin mit über 100 Einsätzen für die Niederlande auch schon als Scout für den niederländischen Fußballverband gearbeitet. Dann folgte die Beförderung zur Co-Trainerin und nach der WM 2015 zur Interimstrainerin. Wiegman konnte in dieser Zeit aber so sehr überzeugen, dass der niederländische Verband die Suche nach jemandem Neuen einstellte und ihr einen Vertrag als Cheftrainerin gab.
Das könnte auch an ihrem "klaren Führungsstil" liegen, wie es die Rekordtorschützin der Niederlande, Vivianne Miedema, sagte. Wiegman weiß, wie sie spielen will, sowohl in den Niederlanden als auch in England wird ihre offene Kommunikation gelobt. Dabei scheut Wiegman auch die schwierigen Konversationen nicht, wie Beth Mead, zusammen mit Alexandra Popp Führende in der Torschützenliste, sagt: "Schwierige Konversationen zu führen, ist definitiv etwas, was für uns ein Wendepunkt war".
Auch innerhalb des Kaders habe Wiegman die Dynamik zum Besseren verändert, die Spielerinnen würden nun mehr darüber reden, was sie voneinander erwarten und was verbessert werden könnte. "Früher haben wir das vielleicht persönlich genommen, aber wir wissen jetzt, dass uns diese Gespräche als Team weiterbringen", erklärte Mead.
Die Kommunikation im Mittelpunkt - auch bei Deutschland war dieses Thema während der EM immer wieder aufgekommen. Auch Martina Voss-Tecklenburg hat ihren Führungsstil angepasst, sie wolle "nicht die Martina mit dem erhobenen Zeigefinger sein", sagte die Bundestrainerin vor dem Turnier. Bei der enttäuschenden WM 2019 habe sie ihre Spielerinnen wohl mit ihren Vorgaben überfordert, für die EM wollte sie auf mehr Lockerheit und Freiheit setzen - das scheint soweit gut zu funktionieren.
Auch bei der Taktik hat Wiegman klare Vorstellungen für ihr Team, viele beschreiben sie als akribische Perfektionistin. Mead erklärte, England habe mit Wiegman "nicht nur einen Plan A, sondern auch B, C und D". Das gebe den Spielerinnen das Selbstbewusstsein, auf verschiedene Situationen vorbereitet zu sein. Gegen viele Gegnerinnen reicht aber auch schon der Plan A, der von Wiegman bei England relativ ähnlich zu ihrem Spielsystem der Niederlande geblieben ist. Die 52-Jährige setzt weiterhin auf ein 4-3-3, den Flügelspielerinnen kommt eine große Rolle bei der Chancenkreation zu.
2017 war Lieke Martens die Spielerin des Turniers, nun könnte es Beth Mead werden, die zusätzlich zu ihren sechs Toren auch noch vier Assists aufzuweisen hat. England sucht sie und ihr Pendant Lauren Hemp oft mit langen Bällen, für die die Innenverteidigerinnen Bright und Williamson oder die defensive Mittelfeldspielerin Keira Walsh verantwortlich sind. Spanien zeigte allerdings auch, dass diese Gefahr mit einer hervorragenden Leistung der Außenverteidigerinnen gebannt werden kann - Deutschland könnte hier wieder darauf setzen, mit mehreren Spielerinnen die flinken Flügelspielerinnen in Bedrängnis zu bringen.
Darüber hinaus war aber auch Englands Mittelfeld bisher stark, und wenn Däbritz und co. ihre Posten verlassen, um auf den Außenbahnen zu Hilfe zu eilen, könnte dieser freie Platz ausgenutzt werden. Schweden war im Halbfinale weit weniger chancenlos, als das 4:0-Ergebnis suggeriert, aber im Mittelfeld ließen sie Stanway und Kirby mehrmals viel Raum. Erstere nutzt diesen auch gerne mal für einen Distanzschuss, wie gegen Spanien. Kirby dagegen hat eine starke Ballkontrolle und spielt gerne Pässe, die plötzlich die Abwehrkette überwinden, wie etwa ihre Vorlage gegen Österreich zeigt.
Mehrere Angriffsmöglichkeiten also, aber wie ist England zu stoppen? Aitana Bonmati war mit Spanien nah dran und teilt hier ihre Einschätzung - sie sieht Schwächen von England in den Phasen, wenn sie länger nicht den Ball haben. Deutschlands Aufbauspiel ist nicht so geduldig und passsicher wie das Spaniens, aber trotzdem können sie diese Schwäche ausnutzen. Wenn England dagegen den Ball hat, zeigten sie sich sie gegenüber einem hohen Pressing teils unsicher, auch das bereits eine Schwäche der Niederlande unter Wiegman.
Auf einen Rückstand musste Wiegman bisher nur ein Mal reagieren, Spaniens 1:0 ist bisher das einzige Gegentor der "Lionesses". Ein Vor- oder ein Nachteil? Das Spiel war zugleich auch Wiegmans schwerste Prüfung bisher, England rettete sich noch in die Nachspielzeit und konnte noch das Ergebnis drehen, dank der Einwechselspielerinnen, einer Druckphase und auch etwas Glück mit den Schiedsrichter-Entscheidungen.
Gegen Deutschland könnte es gut sein, dass Wiegman erneut zeigen muss, wie gut ihr Plan B ist. Praktisch für sie ist, dass dieser oft einen Namen hat: Alessia Russo. Die Stürmerin von Manchester United kam bisher stets von der Bank und konnte doch vier Tore erzielen, auch auf anderen Positionen kann Wiegman auf eine gute Bank zurückgreifen. Wenn die individuelle Qualität nicht ausreicht, wird es auch auf ihren Plan B ankommen. Wird Wiegman mehr auf Konter setzen, das Pressing noch höher ansetzen oder das System umstellen? Heute Abend könnten wir es erfahren.
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