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Olympia 2024: Warum die Sommerspiele in Paris einzigartig sind

Olympia 2024 Warum die Sommerspiele in Paris einzigartig sind
Selten hat eine Stadt ein Sportereignis so sehr gelebt wie die französische Metropole Olympia 2024. Warum ich das weiss? Weil ich bereits 15-mal von Sommer- und Winterspielen berichtet habe.

Selten hat eine Stadt ein Sportereignis so sehr gelebt wie die französische Metropole Olympia 2024. Warum ich das weiss? Weil ich bereits 15-mal von Sommer- und Winterspielen berichtet habe.

Gibt es eine malerischere Kulisse? Radrennen am Montmartre.

Gibt es eine malerischere Kulisse? Radrennen am Montmartre.

Julien De Rosa / AFP

«Best games ever!» So pflegte Juan Antonio Samaranch, von 1980 bis 2001 Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOK), jeweils die Organisatoren an der Schlussfeier zu loben. Unter uns Journalisten herrschte die Meinung, dass er das auch sagen würde, wenn er einem Grümpelturnier beigewohnt hätte, an dem es nur verkohlte Würste und kein Bier gegeben hatte. So sagte es Samaranch zum Beispiel auch zum Abschluss der Spiele von Atlanta 1996, als wir alle dachten: «Bloss weg von hier!»

Fast dreissig Jahre später habe ich in Paris meine letzten Spiele erlebt, es waren die 15., und sie werden in meinem persönlichen Ranking weit oben stehen. Es wurde viel geschrieben über die Pariser, die in die Ferien geflohen seien, um dem Rummel in ihrer Stadt zu entkommen. Bei einigen mag das stimmen, andere machten bloss Ferien wie immer. Aber diejenigen, die geblieben sind, haben die Spiele gelebt, wie ich es nur ganz selten gesehen haben.

Doch kurz zurück zu den Spielen in Atlanta. Wir nannten sie Coca-Cola-Spiele, weil der Getränkekonzern als Grosssponsor des IOK Olympia dort haben wollte, wo er seinen Hauptsitz hat. Es gab Gratis-Cola für die Journalisten, und alle bekamen ein Bündel Coupons für Burger bei McDonald’s. Vieles an den Spielen wirkte halbfertig, im olympischen Dorf hatten Helfer kurz vor der Eröffnung den verdorrten Rasen mithilfe von Spraydosen grün gefärbt. Heimelig war das nicht.

Aber der Geist der Spiele nährt sich nicht von grünem Gras. Was von Atlanta trotzdem in guter Erinnerung bleibt, sind herausragende Momente des Sports. Wann immer ich heute in einem Stadion Leute «USA! USA! USA» brüllen höre, denke ich an den Teamfinal der Frauen im Kunstturnen 1996 im Georgia Dome: einer riesigen Halle, die später zum Football-Stadion wurde.

Gold und Tränen im Georgia Dome – ein unvergesslicher Moment

Das Publikum war nahe am Durchdrehen, als Kerri Strug als letzte US-Turnerin zum zweiten Sprung antrat. Beim ersten Versuch hatte sie sich verletzt, doch das Team brauchte von ihr noch eine hohe Note. Also lief sie ein zweites Mal an, wirbelte durch die Luft, blieb lange genug stehen, damit die Jury den Sprung voll werten konnte. Dann brach sie zusammen, kroch von der Matte und wurde schliesslich vom Trainer vom Podest getragen. Gold und Tränen! Das live erlebt zu haben, wiegt alle organisatorischen Unzulänglichkeiten dieser Spiele auf.

Emotionaler Höhepunkt in Atlanta 1996: Der Trainer Bela Karolyi trägt die verletzte Kunstturnerin Kerri Strug vom Podest.

David Madison / Getty

Atlanta 1996 waren vor allem Spiele für die Zuschauer, ausserhalb der Stadien und Hallen war kaum zu spüren, dass da der grösste Sportanlass der Welt stattfand. Das war völlig anders in Ländern, in denen Sport nicht bloss Unterhaltung, sondern Teil der Kultur ist. Ich erlebte das erstmals im Jahr 2000 in Sydney, dann 2012 in London und nun wieder in Paris.

Die Stadien sind voll, und in der U-Bahn, auf der Strasse begegnet man ständig Menschen, die ein stilles Glück ausstrahlen, weil sie einen schönen Moment voller Emotionen erlebt haben. Diese werden auch geprägt von den einzigartigen Austragungsstätten. Beachvolleyball im Schatten des Eiffelturms, Fechten unter der Glaskuppel des Grand Palais, im Radrennen ein Aufstieg nach Montmartre, wo die Massen sich am Strassenrand drängen wie sonst nur an der Tour de France. Und als Zugabe schwingen die Tänzerinnen des Moulin Rouge ihre Beine.

Es gibt keinerlei Aggressionen, sogar die sonst alles andere als zimperlichen französischen Polizisten lächeln. Man ist versucht, ihnen eine Nelke in den Lauf der Maschinenpistole zu stecken und sie um ein Selfie zu bitten. Sie würden mitmachen.

Sicherheit ist ein Thema, das mich durch alle Spiele begleitet hat. In Atlanta gab es ein Attentat mit zwei Toten. Was mich aber vor allem schockierte, war die Art und Weise, wie der Wachmann, der die Bombe entdeckt und dadurch Schlimmeres verhindert hatte, zum Schuldigen abgestempelt und in den amerikanischen Medien auf übelste Weise vorverurteilt wurde. Er habe alles inszeniert, um sich als Helden feiern zu lassen, hiess es. Man hatte einen Täter, die Spiele konnten weitergehen. Erst 2003 wurde der wahre Bombenleger gefasst, ein Rechtsextremer.

Es ist seit Jahren normal, dass Journalisten vor den Stadien durch Sicherheitsschleusen gehen, wie wir sie vom Flughafen kennen. 2002 in Salt Lake City standen Scharfschützen auf dem Dach unseres Hotels, 2014 in Sotschi entdeckte man überall Soldaten, die mit ihren Maschinengewehren unter weissen Tarnnetzen im Schnee lagen. Nun sind in Paris Dutzende Polizisten in meinem Hotel einquartiert.

Gut getarnt: Soldat in Sotschi an den Winterspielen 2014.

Imago

Es wurde viel diskutiert über die Präsenz von Polizei und Armee in Paris. In dieser Stadt gab es 2015 das furchtbare Massaker im Bataclan, und Frankreich war seither immer wieder das Ziel von Terroristen. Ich hatte ein beklemmendes Gefühl, als ich am ersten Leichtathletikabend in einer Menschenmasse auf den Eingang des Stade de France zuging. Hier waren 2015 drei Attentäter zum Glück zu spät gekommen, die Leute waren schon im Stadion, und es kam nur ein Mensch ums Leben, als sich die Islamisten in die Luft sprengten. Jetzt stehen hier Dutzende Sicherheitskräfte, aber sie wirken nicht bedrohlich, sondern beruhigend.

Doch reden wir vom Sport. Olympische Spiele sind oft Egoprojekte von Staaten, die sich der Welt präsentieren wollen. Der Sport ist ein Vehikel, in das viel investiert wird, doch selten sind diese Investitionen nachhaltig. Am deutlichsten zeigte sich das 2004 in Athen, wo im olympischen Grössenwahn Stadien aus dem Boden gestampft wurden, die schon bald zu Ruinen zerfielen.

Wo Sport reines Mittel zum politischen Zweck ist, fehlt auch der Sachverstand beim Publikum. Auf den Tribünen sitzen dann nationalistische Horden, die nur für ihre Landsleute brüllen. Den Tiefpunkt in dieser Hinsicht erlebte ich 2016 in Rio. Im Stabhochsprung wurde der Franzose Renaud Lavillenie bei jedem Anlauf gnadenlos ausgebuht, weil der Brasilianer Thiago Braz gegen ihn um Gold sprang. Braz gewann, und am nächsten Tag bekam Lavillenie unter einem gellenden Pfeifkonzert die Silbermedaille umgehängt.

Ein Publikum ohne Respekt für den Gegner: In Rio de Janeiro wird 2016 der einheimische Sieger im Stabhochsprung, Thiago Braz, gefeiert und der zweitplatzierte Franzose Renaud Lavillenie ausgepfiffen.

Imago

Ich habe zweimal Pandemie-Spiele erlebt, leere Stadien und eine Art Isolationshaft in nur für Journalisten zugänglichen Hotels. 2021 in Tokio stellten uns die Organisatoren Taxigutscheine zur Verfügung. Ich sass jeweils allein im Fond und staunte, wie der Chauffeur über die leere Stadtautobahn bretterte, als wolle auch er einen olympischen Rekord aufstellen. Dann ass ich mit meinen Kollegen auf einem Randstein sitzend das Curry, das wir beim Lieferdienst bestellt hatten. Das war verboten, aber der Parkplatzwächter schaute weg.

PCR-Test vor dem Frühstück an den Pandemie-Spielen

In Peking ging es im Winter 2022 jeden Morgen vor dem Frühstück zum PCR-Test bei einer Frau im Schutzanzug und mit Taucherbrille. Ihre Augen zeigten Lachfältchen, meine auch. Wenn wir auf den Berg gekarrt wurden, sahen wir, dass es tatsächlich Menschen gab, die sich draussen bewegten. Es hiess, im Stadtzentrum seien die Discos wieder offen. Im Land, das uns das Coronavirus beschert hatte, verkörperten wir Ausländer das Gesundheitsrisiko. Aber die Schweizer Alpinen gewannen fünf Goldmedaillen, und ich war viel näher dran als zuvor an Spielen mit Publikum.

Einsame Spiele: Wegen der Corona-Pandemie sind bei den Winterspielen in China 2022 keine ausländischen Besucher zugelassen.

Andrea Verdelli / Bloomberg

In Paris wirkt es, als werde all das kompensiert, was während der Pandemie gefehlt hatte. Athletinnen und Athleten lassen sich vom euphorischen Publikum tragen. Man kann hinschauen, wo man will: Pingpong, BMX, Kanuslalom – überall sind die Tribünen voll, es wird gesungen, geschrien, gejubelt.

Das hängt sicher damit zusammen, dass die Franzosen erfolgreich sind wie nie zuvor. Aber auch damit, dass dieses Volk den Sport in all seinen Facetten liebt und fast überall auf eine reiche Tradition zurückblicken kann. Dessen werde ich mir bewusst, wenn ich mir vor dem Einschlummern die Studiosendung auf France 2 anschaue, wo auch in der absurdesten Randsportart noch eine ehemalige Olympiasiegerin, ein einstiger Medaillengewinner aus dem Nähkästchen erzählt.

Die Moderatorin dieser Sendung liess sich schon nach einer Woche zur Behauptung hinreissen, die Spiele hätten das nach der Auflösung des Parlaments und den kurzfristig angesetzten Neuwahlen zerrissene Land wieder geeint. Tatsächlich wird der von Präsident Emmanuel Macron ausgerufene politische Waffenstillstand eingehalten. Aber ich habe gelernt, dass der olympische Geist ein flüchtiger Geselle ist. Erlischt am Ende der Abschlussfeier das Feuer, kehrt rasch die alte Realität zurück.

Den Strand in die Stadt geholt: Beachvolleyball im Schatten des Eiffelturms.

Tom Bloch / Imago

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