Wie Kylian Mbappé mit seiner Kritik an Le Pen das Tor zur Hölle ...
Captain Kylian Mbappé positioniert vor dem ersten Spiel von Frankreich an der Europameisterschaft in Deutschland gegen das Rassemblement National. Das ist mutig – und gefährlich.
Viele sehen in Stürmer Kylian Mbappé einen geldgierigen, erpresserischen Nimmersatt, dem es nur darum geht, möglichst viel zu verdienen.
Mit seinem Dauerpoker um noch mehr Geld, noch mehr Macht und noch mehr Aufmerksamkeit hat er sich in den letzten Jahren kaum Freunde gemacht. Für seinen Wechsel von PSG zu Real Madrid, wo er bis 2029 unterschrieb, kassiert er ein Handgeld von 150 Millionen Franken.
Man mag das als obszön und abgehoben empfinden. Gleichzeitig offenbart es auch, in welchen Sphären sich der Franzose bewegt, den der Präsident Emmanuel Macron einst von einem Verbleib in Paris überzeugt hatte.
Inzwischen geniesst Mbappé in Frankreich eine Strahlkraft, die weit über den Sport hinausgeht. Wie sehr dem Stürmer das bewusst ist, zeigte sich am Sonntag, und damit am Vorabend des ersten Spiels der Franzosen an der Europameisterschaft gegen Österreich. «Es heisst, man solle Sport und Politik trennen. Aber in so einer Situation ist die Politik wichtiger als eine EM. Ja, sie ist wichtig. Aber in erster Linie sind wir Bürger dieses Landes», sagte er der Kapitän der Nationalmannschaft zur politischen Lage.
Mbappé: «Wir haben die Zukunft in der Hand»
Seit dem Erdrutschsieg der Rechtspopulisten des Rassemblement National von Marine Le Pen an den Europawahlen Anfang Juni und der Ausrufung von Neuwahlen durch Präsident Emmanuel Macron wird bei der «Equipe Tricolore» weniger über Taktik als über die Zukunft des Landes debattiert.
Dennoch ist der flammende Appell Mbappés an die Bürger Frankreichs, vor allem aber an die Jungen, ihre Stimme bei der Parlamentswahl vom 30. Juni bis 7. Juli abzugeben, ein bemerkenswerter Vorgang. «Frankreich steht an einem entscheidenden Punkt in seiner Geschichte. Wir sind die junge Generation, die etwas verändern kann. Wir haben die Zukunft in der Hand» sagte der 25-Jährige und wies darauf hin, dass «jede Stimme zählt».
Mbappé sagte: «Wir stehen für Werte wie Vielfalt, Toleranz und Respekt. Ich bin gegen die Extremisten, die vor den Türen der Macht stehen. Ich möchte nicht in einem Land leben, das nicht unseren Werten entspricht.»
Auch wenn er es nicht ausformulierte, war klar, wen er damit meinte: Das rechtspopulistische Rassemblement National um Marine Le Pen.
Noch klarer als er hatte sich Stürmerkollege Marcus Thuram geäussert. «Die Situation ist ernst. Das ist die traurige Realität unserer Gesellschaft». Man müsse «jeden Tag dafür kämpfen, dass das Rassemblement National bei den Wahlen nicht durchkommt». Sein Vater, Ex-Nationalspieler Lilian Thuram, engagiert sich seit Jahren gegen Extremismus und Rassismus.
Die Drohungen von Fifa, Uefa und IOC
Dass Athleten sich politisch äussern, ist ein Vorgang, den die Hüter des Sports nicht gerne sehen und den sie mit allen Mitteln bekämpfen. Das Internationale Olympische Komitee verbietet Banner, Armbänder, Gesten mit den Händen und das Niederknien. Die Fifa drohte vor der WM 2022 in Katar mit drastischen Massnahmen, sollten sich Teams mit einer Armbinde in Regenbogenfarben mit der LGBTQ+-Community solidarisieren.
Das ist der groteske Versuch einer Entmündigung der Sportlerinnen und Sportler. Frei dem Motto: Tretet gegen Bälle, amüsiert die Massen, aber entwickelt keine Haltung und schon gar kein Sendebewusstsein.
Auch der französische Fussballverband versuchte vor Mbappés Auftritt, Einfluss zu nehmen. Gemäss «L’Equipe» soll der Präsident Philippe Diallo Mbappé in einem Telefonat ins Gewissen geredet haben. Bereits zuvor hatte der Verband öffentlich dazu aufgefordert, «jegliche Form von Druck und politischer Ausnutzung des französischen Teams zu vermeiden».
Auf Mbappés flammenden Appell reagierte der Verband erneut mit einer Mitteilung, wonach jede politische Äusserung als Privatmeinung zu gelten habe. Der Weltmeister von 2022 lässt sich den Mund nicht verbieten.
Mbappé wie Trainer Deschamps 1998
Bedingungslos hinter Mbappé steht sein Trainer Didier Deschamps, der sagte, seine Spieler hätten «jedes Recht, ihre Meinung zu äussern», weil seine Spieler nicht nur Sportler, sondern vor allem französische Bürger seien, selber wolle er sich auf die Europameisterschaften konzentrieren.
Deschamps hatte 1998 Jean-Marie Le Pen, damals Chef des Front National, dem Vorgänger des Rassemblement National, und Vater der aktuellen Parteichefin Marine Le Pen, angegriffen. Dieser hatte sich abfällig über die dunkelhäutigen Spieler der damaligen Weltmeistermannschaft geäussert.
Sein Captain Mbappé war schon in der Vergangenheit ein Mann der klaren Worte. Während der Krise nach den tödlichen Schüssen eines Polizisten auf einen 17-jährigen und den folgenden sozialen Unruhen verantwortete er eine Mitteilung, in dem die Nationalspieler ihr Verständnis für den Zorn der Vorstädte erklärten und zu einem Ende der Gewalt aufforderten.
Es gebe Spieler, denen es schwerfalle, sich zu solchen Themen zu äussern – sie gelte es zu schützen, sagte Mbappé. Zugleich machte er klar, dass er auf jede Frage eingehen werde. Das ist bemerkenswert. Es ist mutig.
Mbappé wie Muhammad Ali?
Seit der Jahrtausendwende haben nur wenige Sportlerinnen und Sportler ihre Bereitschaft erklärt, sich zu politischen und gesellschaftlichen Fragen zu exponieren, und niemand mit seiner Strahlkraft. Mbappé orientiert sich damit an Muhammad Ali, der den Kriegsdienst im Vietnam verweigerte. Oder an Tommie Smith, dem Olympia-Sieger 1968, der sich mit erhobener Faust, dem Symbol für «Black Power», gegen Rassismus auflehnte.
Ali wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, die zur Kaution ausgesetzt wurde. Ihm wurden der Reisepass und die Boxlizenz entzogen und er verlor drei Jahre seiner Karriere. Es ist ein Preis, den Mbappé nicht zahlen wird. Sich für Vielfalt, Toleranz und Respekt auszusprechen, ist unverfänglich.
Angesichts des Zeitpunkts und der Vehemenz des Appells werden aber auch Mbappés Äusserungen unmittelbare Folgen haben. Er hat damit eine Türe geöffnet, die sich nur schwer wieder schliessen lässt und die für viele das Tor zur Hölle darstellt. Denn künftig wird seine Meinung zu politischen und gesellschaftlichen Fragen noch stärker gefragt sein. Künftig wird nicht mehr nur bewertet, was er sagt – sondern auch, was er eben nicht sagt.
Kylian Mbappé riskiert, dafür angefeindet und instrumentalisiert zu werden. Dass er gewillt ist, das in Kauf zu nehmen, verdient Respekt.