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Jacques Delors: Ein grosser Europäer ist gestorben

Jacques Delors Ein grosser Europäer ist gestorben
Als Kommissionspräsident hat Jacques Delors die europäische Integration vorangetrieben und die Staatengemeinschaft geprägt. Nun ist er im Alter von 98 Jahren verstorben.

Als Kommissionspräsident hat Jacques Delors die europäische Integration vorangetrieben und die Staatengemeinschaft geprägt. Nun ist er im Alter von 98 Jahren verstorben.

Jacques Delors als Präsident der Europäischen Kommission 1994 in Brüssel.
Jacques Delors als Präsident der Europäischen Kommission 1994 in Brüssel.

Nathalie Koulischer / Reuters

Er war in Frankreich so etwas wie eine graue Eminenz. Und er war ein Politiker, der wie kaum ein anderer Einfluss in Europa hatte. Nun ist Jacques Delors am Mittwoch im Alter von 98 Jahren gestorben.

Als Europapolitiker ist der am 20. Juli 1925 in Paris geborene Delors bestens in Erinnerung, er war von 1985 bis 1995 Präsident der Europäischen Kommission. Das französische Nachrichtenmagazin «Le Point» nannte ihn sogar einmal den «Vater» Europas. Delors setzte sich für ein stärkeres Europa ein und vertiefte die deutsch-französische Freundschaft. Und er legte das Fundament für die europäische Gemeinschaftswährung.

Viele hatten ihn einst als idealen Präsidenten für Frankreich gesehen. Doch wie «Le Monde» über ihn schrieb: «Er wollte nicht König sein.» Schon vor seiner Amtszeit als Kommissionspräsident war Delors, der Mitglied der Sozialistischen Partei Frankreichs (PS) war, eher Europa eng verbunden. Von 1979 bis 1981 war er Abgeordneter des Europäischen Parlaments, im Staatenbündnis Europäische Gemeinschaft (EG), dem Vorläufer der Europäischen Union.

In Frankreich wurde Delors besonders als enger Berater von Staatspräsident François Mitterrand bekannt. Delors war unter Mitterrand von 1981 bis 1984 Wirtschafts- und Finanzminister und setzte dabei eine linksorientierte, sozialistische Wirtschaftspolitik um. Diesen Ansatz führte er in seinem europäischen Amt weiter: Er versuchte die Sozialpolitik der Europäischen Union zu stärken. Dabei setzte Delors unter anderem mehr Rechte für Arbeitnehmer durch.

Europäische Integration vorangetrieben

Unter Delors’ Präsidentschaft der EU-Kommission kam die europäische Integration, die lange Zeit stagnierte, weit voran. Der Vertrag von Maastricht, mit dem 1992 die Europäische Union gegründet wurde, kam unter Delors zustande. Delors brachte den Binnenmarkt und die Währungsunion mit auf den Weg. Eine Kommission, die von ihm ins Leben gerufen wurde, stellte wichtige Massnahmen für das Funktionieren des Binnenmarktes auf.

Zu seinem Amtsantritt hatte Delors die Frage gestellt: «Ist es vermessen, den Beschluss anzukündigen und dann auch durchzuführen, bis 1992 alle innergemeinschaftlichen Grenzen aufzuheben?» Dazu gehörten unter anderem der Wegfall der Personen- und Warenkontrollen an den Binnengrenzen und die Beseitigung von steuerlichen Schranken. Aber auch die Marktöffnung und die Beseitigung von Staatsmonopolen waren darin enthalten.

Bis Ende 1992 hatte Delors es tatsächlich geschafft, und der grösste Teil der Kommissions-Vorschläge war verabschiedet. Dadurch veränderte sich das europäische Staatenbündnis vollkommen, weshalb Delors bis heute als einer der einflussreichsten Europäer gilt. Er legte 1989 auch einen Plan zur Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion vor. Dieser wurde später zur Grundlage der Wirtschaftsthemen im Vertrag von Maastricht.

Vielfach ausgezeichnet

Der Franzose war dafür bekannt, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Waren viele in Frankreich 1989 gegen die deutsche Wiedervereinigung, sprach er sich dafür aus. Damals herrschte im Hexagon trotz deutsch-französischer Freundschaft noch eine grosse Skepsis gegenüber Deutschland. Delors hingegen sah ein geeintes Deutschland innerhalb Europas nicht mehr als Problem.

Auch nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Ende seines Amtes als EU-Kommissionspräsident setzte sich Delors weiter für Europa ein. Dafür verzichtete er auch 1994 auf eine Kandidatur als möglicher Nachfolger von Präsident Mitterrand. Und das, obwohl er als der aussichtsreichste Politiker bei den Sozialisten galt.

Delors erklärte, er habe sich aus der französischen Politik zurückgezogen, um auf europäischer und internationaler Ebene aktiv zu werden. Europa war ihm wichtiger als nationale Bestrebungen. Er war Mitglied der Spinelli-Gruppe, die sich für den europäischen Föderalismus einsetzt. Zudem leitete Delors den einflussreichen Think-Tank Notre Europe. Nach ihm wurde auch der europäische Think-Tank, das Jacques-Delors-Institut in Berlin, benannt.

Die Preise, die Delors im Laufe seiner Karriere verliehen wurden, sind zahlreich. Darunter finden sich so wichtige Auszeichnungen wie der Karlspreis der Stadt Aachen, den er 1992 erhielt. Delors wurde 2015 auch «Ehrenbürger Europas.» Der Europäische Rat ehrte ihn für seinen «bemerkenswerten Beitrag zur Entwicklung des europäischen Projekts». Auch der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl wurde 1998 Ehrenbürger.

Förderer seiner Tochter

Delors’ Bemühungen um eine soziale Politik zeigten auch in seiner Familie Auswirkungen. Seine Tochter Martine Aubry rief im Jahr 2000 als Arbeitsministerin die 35-Stunden-Woche ins Leben. Vom Schicksal blieb die Familie nicht verschont. 1982 verlor Delors seinen Sohn, den Journalisten Jean-Paul Delors. Er starb im Alter von 29 Jahren an Leukämie. Über den Verlust kam die Familie nie hinweg. Jacques Delors konzentrierte sich fortan ganz auf seine Tochter.

Immer wieder ärgerte sich Delors über den späteren Präsidenten François Hollande, den er früh als Rivalen seiner Tochter Aubry erkannte. Denn sie hatte Ambitionen, Präsidentin zu werden. Bei seinem Rückzug aus der französischen Politik betonte Delors: «Ich werde aussen vor bleiben, ausser wenn François Hollande weiterhin erklärt, dass er einer meiner Söhne sei.» Hollande hatte sich immer als Erbe Delors’ bezeichnet. In Frankreich wurde auch spekuliert, Delors wolle nicht Präsident werden, um seiner Tochter eine spätere mögliche Kandidatur nicht zu verbauen. Sie versuchte es 2012, konnte sich aber nicht gegen François Hollande durchsetzen.

So pragmatisch und nüchtern, wie der Jurist Delors als Politiker war, war er auch als Mensch. Martine Aubry erklärte einst: «Mein Vater hat mir nie ein Kompliment gemacht.» Als Aubry 1972 in die Politiker-Eliteschule ENA aufgenommen wurde, aus der viele von Frankreichs Präsidenten gekommen sind, war das für ihren Vater ganz normal: «Er hat mir nie gesagt, dass er stolz auf mich sei», sagte Aubry.

In den letzten Jahren war Jacques Delors nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten, es hiess, er sei müde. Sein letzte grosse Stellungnahme machte er im September 2018: Er schrieb einen Text, um «Europa zu retten». Er sorgte sich wegen des Brexits und des Aufstiegs von Populisten. Delors schlug ein solidarischeres Europa vor.

Der Text «Europe, soyons audacieux» (Europäer, lasst uns wagemutig sein) wird von französischen Medien als sein «europäisches Testament» bezeichnet.

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