Israel: Nach Kriegsende wollen radikale Siedler zurück nach Gaza
Seit dem Hamas-Massaker am 7. Oktober sind viele Siedler im Westjordanland überzeugt: Die Palästinenser müssen sich unterordnen oder verschwinden – auch aus dem Gazastreifen.
Michal Katz steigt aus dem kleinen Geländewagen, zieht an seinem Joint und blickt auf das grüne Tal, das unter ihm liegt. Um ihn herum laufen seine drei Hunde, die Frühlingssonne taucht die Berglandschaft in ein helles Licht, Bienen fliegen von einer Blume zur nächsten. Nur seine umgehängte Maschinenpistole passt nicht in die scheinbare Idylle.
«Dieses Gebiet verbindet Rosh Tsurim mit Bet Shemesh. Es ist strategisch besonders wichtig, deswegen patrouillieren wir hier», sagt Katz, während er auf die Häuser unter sich zeigt. «Eines Tages wird sich hier eine Autobahn befinden, die den Süden Israels mit dem Toten Meer verbindet.»
Der Mann mit dem Pferdeschwanz ist sich sicher, dass auch das letzte Hindernis für die Strasse, welche die Siedlungen mit israelischem Staatsgebiet verbinden soll, aus dem Weg geräumt wird: das palästinensische Dorf Nahalin, das zwischen vier grossen israelischen Siedlungen im Westjordanland eingequetscht ist. «Israel wird sicherer werden, wenn hier mehr jüdische Familien leben», sagt der 43-Jährige. «Schau doch nur, was in Gaza passiert ist: 2005 haben wir uns zurückgezogen. Dann kam der 7. Oktober.»
Für viele Siedler ist der Zusammenhang glasklar: Die Räumung der israelischen Siedlungen in Gaza vor neunzehn Jahren war ein fataler Fehler, der direkt zum Massaker der Hamas geführt hat. Seit dem Ausbruch des Gaza-Kriegs fühlen sich viele der knapp 700 000 Siedler im Westjordanland und in Ostjerusalem in ihren Überzeugungen bestärkt: Nur eine jüdische Expansionspolitik bringe langfristige Sicherheit für Israel. Die Palästinenser müssen sich ihrer Ansicht nach unterordnen oder verschwinden – auch aus dem Gazastreifen.
Katz will das jüdische Heimatland beschützen
Michal Katz erinnert mit seinen langen Haaren und der roten Outdoor-Hose an einen alternden Hippie. Er lebt in einem kleinen Haus auf dem Kashuala-Hof, wenige Kilometer hinter der grünen Linie, die seit dem Ende des Unabhängigkeitskriegs 1949 Israel und das Westjordanland voneinander trennt. Doch seit Israels Sieg im Sechstagekrieg 1967 haben sich immer mehr Siedler in dem Gebiet niedergelassen, das seitdem unter israelischer Militärverwaltung steht. Israel nennt das Westjordanland nach den biblischen Namen Judäa und Samaria – es gilt als Wiege der jüdischen Zivilisation.
grüne Linie
Der Bauernhof, auf dem Katz lebt, ist ein illegaler Aussenposten. International werden alle jüdischen Siedlungen im Westjordanland als illegal angesehen. Der Kashuala-Hof dürfte sogar nach israelischem Recht nicht existieren. Faktisch hat das wenig Konsequenzen: Die Armee bewacht den Bauernhof und grüsst die Bewohner freundlich, wenn sie dort patrouilliert. Seit zwölf Jahren gibt es den Ort schon, Touristen können auf dem Hof übernachten – und er wird stetig erweitert.
Vor rund zwei Jahren ist Katz hierhin gezogen. Sein Haus ist bis heute ein Provisorium. Zu Beginn hatte er nur ein Plumpsklo. Heute ist die Hütte immerhin an die Kanalisation angeschlossen, isoliert ist sie aber nicht wirklich. Die Regierung erlaubt es ihm bis jetzt nicht, hier ein permanentes Haus aus Beton zu bauen. Über dreissig Jahre lang lebte Katz in Efrat, einer grossen Siedlung im Westjordanland. Auf den Kashuala-Hof kam er wegen der Stille – und um das jüdische Heimatland zu beschützen, wie er sagt.
«Dieser Ort hier wird eines Tages die Keimzelle für viele weitere jüdische Häuser sein», ist er überzeugt. Für die Palästinenser, die in der Gegend leben, bedeutet das Landraub. Katz berichtet, wie sie in der Vergangenheit die von Juden gepflanzten Bäume abgebrannt und die Schafe der Farm gestohlen haben.
Für Katz ist es genau andersherum: «Die Araber haben kein Recht auf das Land, denn das ist das jüdische Heimatland. Schon seit über dreitausend Jahren, noch bevor das römische Imperium es für sich beanspruchte.» Der Hof ist deswegen laut Katz auch nur Mittel zum Zweck. «Wir lassen hier unsere Schafe auf einer Fläche von zwölf bis vierzehn Quadratkilometern grasen, damit wir das ganze Gebiet kontrollieren können.»
Die Palästinenser sollen bleiben, aber nicht wählen dürfen
Der Kashuala-Hof wurde 2012 von Yair Ben-David gegründet. Ben-David, ursprünglich Jurist, lebt mit seiner neunköpfigen Familie in einem bescheidenen Haus zwischen Kiefern, wenige Meter von Katz entfernt. «Damals gab es hier nichts, nur Bäume», erzählt Ben-David bei einer Zwiebelsuppe vor seinem Haus. «Wir hatten kein Wasser und keinen Strom. Wir haben in Zelten gelebt.»
«Ich habe schon immer hier in der Gegend gelebt, und es ist meine Überzeugung, dass wir ganz Israel besiedeln müssen. Denn Gott hat dieses Land den Juden gegeben», sagt er mit einem Lächeln. Der 46-Jährige redet leise. Mit seinem angegrauten, langen Bart umgibt den tiefgläubigen Mann die Aura eines Propheten.
«Ganz Israel meint ganz Israel, Judäa und Samaria – und auch Gaza.» Ben-David ist ebenfalls überzeugt, dass es kein Hamas-Massaker gegeben hätte, wären die jüdischen Siedler in Gaza geblieben. Einst existierten 21 israelische Siedlungen im Gazastreifen. Doch im Jahr 2005 zog die israelische Regierung die Armee aus dem Gebiet ab. 8000 Siedler mussten ihre Häuser verlassen. Heute will laut Umfragen ein Viertel aller jüdischen Israeli die Siedlungen in Gaza nach Kriegsende wiedererrichten.
Anteil der jüdischen Israeli, die Siedlungen in Gaza wiederaufbauen wollen, Angaben in Prozent
Unterstützer der Regierungskoalition
Unterstützer der Opposition
Geht es nach Ben-David, müssten die Palästinenser das Gebiet nach einer Annexion durch Israel nicht verlassen. Die gleichen Rechte würden sie allerdings nicht erhalten. «Den Millionen Arabern können wir nicht einfach so die Staatsbürgerschaft geben, sonst wäre Israel kein jüdischer Staat mehr», sagt er. «Sie dürfen hier leben und arbeiten, unsere Spitäler und Schulen nutzen – aber sie dürfen kein Wahlrecht erhalten.» Dass Israel dann keine Demokratie mehr wäre, scheint Ben-David nicht zu stören.
Es sei doch ganz einfach, meint er. «Entweder die Araber benehmen sich und akzeptieren, dass das hier ein jüdischer Staat ist, oder sie entscheiden sich, Terroristen zu werden. In dem Fall werden wir sie töten.» Seit der Terrorattacke der Hamas ist Ben-David auf der Hut. «Ich habe nicht Angst, dass sich der 7. Oktober wiederholt», sagt er. «Ich weiss, dass es passieren wird.» Sobald Israel Schwäche zeige und sich dem internationalen Druck beuge, drohe auch hier im Westjordanland ein neues Massaker.
Auf dem Hof trägt Ben-David meist sein Sturmgewehr. Nach Kriegsausbruch wurde er als Reservist eingezogen, er war vor allem in der Nähe seiner Heimat im Einsatz. Das ist nichts Ungewöhnliches: Viele der Soldaten, die Siedlungen im Westjordanland bewachen, sind selbst Siedler – umso mehr seit dem 7. Oktober. Laut palästinensischen und israelischen Menschenrechtsgruppen haben seither die Übergriffe auf Palästinenser stark zugenommen.
In Ben-Davids Haus hängen seit dem Massaker der Hamas drei Bildschirme, die die Aufnahmen der überall auf dem Hof angebrachten Überwachungskameras übertragen. Er bedauert das. «Eigentlich wollte ich, dass meine Kinder ohne Fernseher aufwachsen.» Wieder blitzt das Lächeln in seinem dichten Bart auf.
Gegenüber den Palästinensern keine Schwäche zeigen
Viele Siedlungen ähneln in ihrem Anfangsstadium dem Kashuala-Hof: Zunächst schlagen Israeli ein paar Zelte auf, dann schaffen sie sich Schafe an, bewirtschaften das Land und zäunen es ein. Über die Jahre entwickeln sie sich zu kleinen Städten, die so auch in Israel stehen könnten. Nur die Checkpoints des Militärs am Eingang verraten, dass sie sich im besetzten Westjordanland befinden. Die Siedlung Kiryat Arba existiert bereits seit 1970. Auch Israels rechtsextremer Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, lebt hier – in unmittelbarer Nähe zur mehrheitlich von Palästinensern bewohnten Stadt Hebron.
Yiska Tsoran ist in Kiryat Arba aufgewachsen. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren vier Kindern etwas ausserhalb der Siedlung, zusammen mit 21 weiteren Familien. Es werde zu eng in Kiryat Arba, daher seien sie vor sieben Jahren hierher gezogen. «Wir wollen wachsen», sagt die Frau mit dem kunstvoll gebundenen Kopftuch lachend. Tsorans Ehemann ist zum Zeitpunkt des Treffens nicht da – er wurde als Reservist eingezogen und kämpfte in der Nähe von Khan Yunis im südlichen Gazastreifen.
«Ich bin mir sicher, dass die Mehrheit der Araber, die hier leben, das Massaker begrüsst haben», sagt die 43-jährige Ergotherapeutin vor ihrem Haus, als die Dämmerung hereinbricht. Sie habe keine Angst seit dem 7. Oktober – obwohl um sie herum rund 140 000 Palästinenser leben, von denen sie glaubt, dass sie ihr den Tod wünschen. Tsoran lebt genauso wie vorher. «Wenn ich in meinem Haus bleibe und zeige, dass ich Angst habe, dann denken die Araber, das Land gehöre ihnen. Das können wir nicht zulassen, dann zeigen wir Schwäche. Davor habe ich Angst.»
Seit dem Massaker der Hamas wurde das israelische Sicherheitsdispositiv in Hebron massiv erhöht. Bis heute gilt jeden Abend um neun Uhr eine Ausgangssperre für die palästinensischen Bewohner des israelisch kontrollierten Teils der Stadt. Tsoran reicht das nicht. «Es war ein Fehler, dass Netanyahu 1996 Hebron den Arabern gegeben hat. Deswegen können sie heute tun, was sie wollen, und Steine auf uns werfen.» Im Rahmen der Oslo-Verträge stimmte der damalige und heutige israelische Ministerpräsident zu, dass die Palästinensische Autonomiebehörde rund 80 Prozent des Stadtgebiets von Hebron verwaltet.
«Wir müssen grössere Siedlungen in Gaza bauen»
Es wird dunkel. Yiska Tsoran bittet in ihr Haus und serviert Kaffee. «Wir müssen zurück nach Gaza und dort mehr und grössere Siedlungen bauen», sagt sie, als sie auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer sitzt. Hinter ihr, über dem Esstisch, hängt eine Girlande mit kleinen Israel-Flaggen.
Nach dem Schulabschluss leistete Tsoran ihren nationalen Freiwilligendienst in Gush Katif, den Siedlungen im Gazastreifen. Diese Alternative für den Militärdienst steht vor allem jungen israelischen Frauen offen, die aus religiösen Gründen nicht zur Armee gehen. «Die Siedlungen in Gaza waren so schön, ich konnte jeden Tag das Meer sehen», erinnert sie sich. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie gegen den Abzug aus Gaza protestiert. Auf ihrem Sofatisch breitet sie ein grosses Fotoalbum aus, in dem der Protest gegen die Räumung der Siedlungen dokumentiert ist.
«Wenn Gush Katif noch existieren würde, hätte es kein Massaker gegeben. Aber was wir heute brauchen, ist nicht Gush Katif – das waren kleine Siedlungen», sagt sie mit ernster Miene. «Nach dem Krieg muss der ganze Gazastreifen von Juden bewohnt werden.» Es gehe dabei aber nicht nur um Sicherheit, stellt sie klar. «Wir müssen dort siedeln, weil das unser Land ist und die Juden ein auserwähltes Volk sind – das müssen wir den Arabern zeigen.» Die Palästinenser könnten doch auch in andere arabische Länder ziehen, meint Tsoran. «Die Araber haben über zwanzig Staaten, wir Juden haben nur diesen einen.»
Nur eine Minderheit in Israel denkt so radikal wie Yiska Tsoran, Michal Katz und Yair Ben-David. Doch noch nie in der Geschichte des jüdischen Staats war diese Minderheit so mächtig wie heute. Ihre politischen Vertreter wie Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir besetzen einflussreiche Ministerposten. Ministerpräsident Netanyahu hat sich zwar gegen eine Besiedlung des Gazastreifens ausgesprochen, doch weist er seine rechtsextremen Koalitionspartner nicht in die Schranken, wenn sie genau das fordern. Und auch in Netanyahus Likud-Partei gibt es Befürworter des Siedlungsplans.
Yiska Tsoran vertraut dem Ministerpräsidenten und seiner Partei trotzdem nicht – zu oft habe der Likud schon die Interessen der Siedler verraten. Bei der letzten Parlamentswahl hat sie daher für Ben-Gvir gestimmt, ihren Nachbarn.
Mitarbeit: Jeremy Cohen