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Fussball-WM: schauen oder nicht schauen?

FussballWM schauen oder nicht schauen
Natürlich werde ich schauen. Nicht alles, aber vieles. Denn nach wie vor bin ich fasziniert von diesem Spiel, das zwar die so gewünschte Perfektion nie

Natürlich werde ich schauen. Nicht alles, aber vieles. Denn nach wie vor bin ich fasziniert von diesem Spiel, das zwar die so gewünschte Perfektion nie erreichen wird, aber gerade deshalb Millionen, in den nächsten vier Wochen gar Milliarden Fussball-Fans in seinen Bann ziehen wird. Denn immer ist der Zufall mit im Spiel. Und das ist gut so. Im Gegensatz zum Handball ist beim Fussball selbst ein kurzes Zuspiel mit Risiko verbunden. Deshalb ist der Fussball so viel attraktiver als das Handball-Spiel, das mit den Händen eine weit höhere Perfektion erreicht und damit bei Angriffen notgedrungen zu sturen Abwehrblocks führt, die nur trickreich oder aus Distanz überwunden werden können.

Seit beinahe 150 Jahren, als am 19. April 1879 mit dem FC St. Gallen hierzulande der erste Fussball-Club gegründet wurde, ringen auch in der Schweiz die Trainer um das perfekte Spiel. Um den haargenauen Pass, um die perfekte Ballannahme, um den eleganten Lauf mit dem Ball, um das trickreiche Umlaufen des Gegners, um den bestens platzierten Knaller ins rechte obere Eck im Tor des Gegners. Oder um das erfolgreiche Abluchsen des Balls beim angreifenden Stürmer, um das genau auf den Ball zielende Grätschen in den Lauf des Gegners, um die spektakulären Paraden des Torhüters, der aus den Ecken fischt, was zu einem Tor hätte führen können, um die Angst des Torhüters vor dem Elfmeter oder der grossen Erleichterung, wenn es ihm gelingt, was fast unheimlich ist, den scharfen, platzierten Schuss vom Penalty-Punkt geschossen zu parieren.

Aber es ist der Zufall, es ist das Unheimliche, dass selbst eine überlegene Mannschaft verlieren kann, wenn eben nicht gelingt, was so sehr angestrebt wird: die Perfektion. Wenn entgegen allen Chancen das nötige Tor zum Sieg nicht fällt.

Bereits im Eröffnungsspiel Katar gegen Ecuador wird eine ganz spannende Frage eine erste Antwort gefunden haben: Hat das gigantische Milliarden Projekt «Football Dreams» Katars, dass eine überaus starke Nationalmannschaft zum Ziel hat, zum ersten Erfolg geführt? Konnte die katarische Elf gegen die Südamerikaner wirklich bestehen, zeigen, dass gar mit ihr zu rechnen ist? Kann der Emir von Katar Tamim bin Hamad Ai Thani (43) einen ersten grossen Erfolg verbuchen? Geht auf, was er, sein Emirat, sein Hofstaat mit allen Mitteln, mit Milliarden anstreben: weltweite Aufmerksamkeit, Respekt. Übertüncht der Erfolg Tag für Tag in diesen nun anstehenden vier Wochen die grossen Schattenwürfe über dieser Weltmeisterschaft? Wird mit allen Mitteln auf die Seite geschoben, staatlich gelenkt aus dem Bewusstsein gedrängt, dass die Menschenrechte im Emirat mit Füssen getreten werden, dass über 6000 Gastarbeiter in den letzten 12 Jahren auf den Baustellen der Stadien, die nun die Weltbühne bedeuten, starben, dass in Katar die Kinderehe, die Polygamie erlaubt sind, die Homosexualität dagegen verboten ist?

Und all das mit gütiger Unterstützung eines Schweizers, eines Mannes, der über Zürich regiert, die FIFA lenkt, in Katar jetzt gar residiert: Gianni Infantino, so der Mann, hat auf der einen Seite mit salbungsvollen Worten zu einem Waffenstillstand in der Ukraine während der WM aufgerufen, auf der anderen Seite hält er die Diskussionen um die Zustände in Katar als eine Nebensächlichkeit, die im politfreien Fussball nichts zu suchen hat. Und in einem denkwürdigen, einstündigen Monolog vor der Weltpresse fühlte er sich am Samstag als alles, gar als homosexuell, teilte aus, wies alle Kritiker in die Schranken, die postwendend reagierten und von einer «Sternstunde der Realitätsverweigerung», von «irreführenden, respektlosen und beleidigenden Aussagen» schrieben. Mein Gott, Infantino, wo führt das hin?

Ab jetzt werden wir auf jeden Fall jeden Tag während Stunden Bilder aus Katar, aus den wunderschönen, abgekühlten Stadien anschauen können. Dabei stehen uns Wechselbäder der Gefühle bevor. Glücksgefühle, wenn die Schweizer Nationalmannschaft ihrer Reputation gerecht wird, den erwarteten Einzug ins Viertelfinale schafft und vielleicht noch mehr. Betrübt, wenn sie es nicht schafft. Und ganz besonders betroffen werden wir sein, wenn Herr Infantino, der die Heimstatt der FIFA, die Schweiz in Katar repräsentiert, uns mit seiner verqueren Sicht der Politik, der Zustände in Katar unaufhörlich erschaudern lässt. So können wir stolz sein auf der einen Seite, beschämt auf der anderen, und das während vier Wochen.

In den Bildern aus Katar werden die Fussball-Spiele dominieren, dafür werden die Veranstalter mit allen Mitteln sorgen, weil alles andere die gelenkte Festfreude trüben würde. Daraus resultiert ein kleiner Trost, weil die WM eine Frage, meine Frage beantworten wird: Ist der Fussball noch ein wenig perfekter geworden? Ich hoffe, ja. Nur der Zufall darf nicht ganz überspielt werden. Denn das würde die Attraktivität des Spiels tatsächlich mindern.

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