Besuche in KZ-Gedenkstätten: Wie Jugendliche Exkursionen nach Auschwitz erleben
Schulische Besuche von KZ-Gedenkstätten sind bildungspolitisch und gesellschaftlich längst anerkannt. Durch die Corona-Pandemie kam es jetzt zu einer längeren Zwangspause; kurz zuvor schlossen sich bei einer repräsentativen Umfrage für die Deutsche Welle sogar drei Viertel der Befragten der Forderung nach Pflichtbesuchen für alle Lernenden deutscher Schulen an.
Christian Kuchler, Jahrgang 1974, ist Professor für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften an der RWTH Aachen. Zuvor war er Gymnasiallehrer sowie Geschichtsdidaktiker an den Universitäten München und Regensburg. Er forscht zu den Qualitätskriterien wirksamen Geschichtsunterrichts, zum Umgang mit historischen Orten und zur Erinnerung an den Nationalsozialismus.
Oft werden geradezu Wunderdinge erwartet: Exkursionen zu den einstigen Vernichtungslagern sollen Jugendlichen zu einer stabilen demokratischen Grundhaltung verhelfen, sie gegen Antisemitismus und Rassismus immunisieren. Obwohl solche Fahrten zum bundesdeutschen Schulalltag gehören, sind sie kaum erforscht. Daher ist nicht leicht zu benennen, was junge Menschen von Besuchen in Bergen-Belsen, Neuengamme, Dachau oder Buchenwald tatsächlich mitnehmen.
Was also halten Schülerinnen und Schüler selbst von solchen Fahrten? Wie erleben sie die Begegnung mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte?
Nur selten wird der Ertrag inländischer, zumeist eintägiger Exkursionen dokumentiert. Anders ist das bei Reisen ins Ausland. Die Stiftung »Erinnern ermöglichen« fördert seit 2010 mehrtägige schulische Fahrten ins südpolnische Oświęcim zur Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Seitdem gehört der Ort des größten NS-Verbrechens zu den meistbesuchten internationalen Zielen von Schulen in Nordrhein-Westfalen, Hessen oder Mecklenburg-Vorpommern. Dabei entstand ein Archiv aus Reisedokumentationen. Die handschriftlichen, spontanen und recht ungefilterten Eindrücke vom Aufenthalt am früheren Verbrechensort sind Grundlage der folgenden Ergebnisse.
»Ich wusste schon, dass es nicht leicht wird, aber dass es so schlimm wird, hab ich nicht gedacht.«
Gesamtschüler aus Werther, 2015
Vor Fahrtbeginn beeindruckt die Dimension des Begriffs »Auschwitz« viele Schülerinnen und Schüler. Schließlich gehe es bei der Gedenkstättenexkursion nicht um Spaß, wie dies »normalerweise bei Schulfahrten der Fall ist«, sondern um eine »komplett andere Erwartung«, so eine Stimme aus dem Jahr 2012.
Und es ist auch mehr als Respekt – eine Essener Schülerin bringt es so auf den Punkt: »Ich bin zwar sicher, dass ich auf dieser Fahrt dabei sein möchte, aber ich habe Angst. Angst vor dem, was mich erwartet! Ich kann mir vorstellen, dass es hart wird, aber ich weiß nicht, ob ich dies verarbeiten kann.«
Die Ursache dafür scheint ein sehr unklares Bild des Besuchs in Oświęcim zu sein. Ganz offensichtlich befürchten viele Lernende, gewissermaßen in die Zeit des Konzentrationslagers zurückzureisen, in ein apokalyptisches Horrorszenario. Sie erwarten ein ausschließlich tristes und düsteres Areal, eine Umgebung wie aus dem Geschichtsbuch oder aus Filmen wie »Schindlers Liste« – kurz: einen Ort des Grauens.
Tatsächlich prägt zahlreiche Schülerberichte das Erstaunen über die Stille und die Ordnung in der Gedenkstätte. Zuvor abstraktes Wissen erfährt eine neue Dimension: Die Besucher sehen die ausgestellten letzten Hinterlassenschaften der Opfer – ihre Schuhe, Brillen und Koffer. Sie können die Baracken berühren, die Enge der Zellen spüren, die Weite des Geländes wahrnehmen.
DER SPIEGEL
Diesen »einzigen Zeugen der Grausamkeit« und den enormen Ausmaßen vor allem des Lagers in Birkenau schreiben sie besondere Eindringlichkeit zu. Pointiert beschreibt das die Spontanäußerung eines Schülers: »Mein erster Eindruck, als wir angekommen sind: Ach du meine Güte, ist das groß!«
Im Vorfeld kaum wahrgenommen wird der Charakter einer Gedenkstätte, also ihre museale Überformung des historischen Ortes und die reflektierte Darstellung der dort verübten Verbrechen. An diesem Punkt sollte der vorbereitende Geschichtsunterricht noch stärker ansetzen. Moderne Techniken, besonders Virtual-Reality-Anwendungen, können dazu einen wesentlichen Beitrag leisten.
»Es ist anders, wenn man wirklich am Ort des Geschehens ist, oder ob man es im Geschichtsunterricht aus Büchern erfährt.«
Abiturientin einer Gesamtschule in Übach-Palenberg, 2013
Für die jungen Gäste bedeutet der Besuch vor allem eine emotionale Herausforderung. Übereinstimmend betonen sie, weniger über Fakten zur NS-Geschichte oder den detaillierten Ablauf des Lagerterrors gelernt zu haben. Stattdessen sei ihnen vor allem die Tatsächlichkeit des Geschehenen erfahrbar geworden: »Auschwitz hat mich überzeugt, dass alles wahr ist, was in den Geschichtsbüchern über die NS-Zeit steht.«
Deportationswaggon in Auschwitz: Emotionen gehören zum historischen Lernen
Foto: Rolf Zöllner / imago imagesEmotionen sind ein zentraler Teil des historischen Lernens. Bei der Planung der mehrtägigen Aufenthalte sind die Lehrkräfte gefordert, bei Führungen auf dem Gelände die Museumspädagogik. Anstelle einer übergroßen Themen- und Terminfülle braucht es Ruhephasen zur Verarbeitung, vor allem Zeit für Gespräche innerhalb der Gruppe. Denn sie bieten Jugendlichen den Binnenraum, um ihre Beklommenheit zu verarbeiten. Dankbar erinnert sich ein Schüler: »Die Gruppendynamik hat jederzeit jede Gefühlslawine aufgefangen.«
Gerade in der Zeit für Austausch unterscheiden sich heutige Fahrten zur Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau fundamental von früheren Reisen westdeutscher Schulen ab 1980. Mit Unterstützung der Robert-Bosch-Stiftung waren etwa zehn Jahre lang Gruppen durch Polen gereist, um Kultur und Geschichte des östlichen Nachbarlandes zu erkunden. Jedoch sahen die meist zweiwöchigen Rundfahrten nur Aufenthalte von bis zu drei Stunden in der Gedenkstätte Auschwitz vor; zudem schlossen sich den Kurzbesuchen kaum Reflexionsmöglichkeiten an. Daher spielte die Zeit in Oświęcim in den Berichten der bundesdeutschen Jugendlichen über die Polenreisen nur eine untergeordnete Rolle.
Titel: Lernort Auschwitz: Geschichte und Rezeption schulischer Gedenkstättenfahrten 1980-2019
Herausgeber: Wallstein
Seitenzahl: 275
Autor: Kuchler, Christian
Preisabfragezeitpunkt
27.01.2021 19.00 Uhr
Keine Gewähr
Doch auch die heute üblichen längeren Reisen zur Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau bleiben mitunter an der Oberfläche. Vielfach identifizieren sich Schülerinnen und Schüler sehr mit den Opfern. Nach den Motiven der Täter fragen sie dagegen kaum oder dämonisieren diese, sprechen ihnen jeden Verstand und jede Menschlichkeit ab (»Das waren keine Menschen, sondern sadistische Bestien mit krankem Geist und noch krankhafterer Fantasie«).
So leicht sollte man es Jugendlichen des 21. Jahrhunderts nicht machen, sondern mit ihnen herausarbeiten, dass die industrielle Ermordung von Millionen Menschen keineswegs allein in der Verantwortung einer kleinen Führungselite lag.
Zudem sind die Wahrnehmungen an die NS-Zeit sehr vom nationalen Bezugsrahmen geprägt. Auschwitz ist für die Schülerinnen und Schüler aus Deutschland primär Teil der deutschen Geschichte; dass dort Menschen aus ganz Europa gequält und ermordet wurden, bleibt oft ausgeklammert. In den Texten wird die gesamte Reise etwa mit den Worten »2400 km durch die deutsche Geschichte« zusammengefasst. Dazu passt es, wenn das Gastland Polen in den Berichten der deutschen Jugendlichen kaum erwähnt wird.
»Tolle Fahrt, die mich als Mensch ein wenig wachsen ließ.«
Abiturientin aus Dortmund, 2019
Insgesamt beurteilen die Jugendlichen ihren Aufenthalt in Oświęcim als bereichernd. In Interviews ein Jahr danach geben nahezu alle an, sie würden Jüngeren zur Teilnahme an Gedenkstättenfahrten raten. Ob es dafür stets der zeit- und kostenintensiven Reisen in den Süden Polens bedarf? Auschwitz-Birkenau war das Zentrum der Shoah. Aber vielleicht könnte der hohe Gewinn solcher Reisen auch an inländischen Gedenkstätten erzielt werden. Denn bei regionalen Besuchen erkennen Schülerinnen und Schüler, dass Plötzensee zu Berlin gehört wie Neuengamme zu Hamburg oder Dachau zu München.
Dafür sollten die Besuche allerdings nicht im Stil eines austauschbaren Wandertags oder als Kurztrip knapp vor den Ferien stattfinden. Sie müssen gut vorbereitet und in den Geschichtsunterricht eingebettet werden, um historisches Lernen zu ermöglichen, das langfristig wirkt und ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein ausbildet.
»Ich fahre mit einer ganz anderen Sicht auf die Vergangenheit nach Hause«, lautete das Fazit eines Jugendlichen. Und eine andere Schülerin: »Die Eindrücke der Fahrt sind so wichtig, dass ich sie später meinen eigenen Kindern noch erzählen werde.«
Icon: Der Spiegel