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1. Mai in Zürich: Linke protestieren trotz Coronavirus

1 Mai in Zürich Linke protestieren trotz Coronavirus
Erstmals in der Geschichte fand der Tag der Arbeit in Zürich ohne Grossdemonstration statt. Protestiert wurde dennoch. Eindrücke von einem eigenartigen 1. Mai.

Erstmals in der Geschichte fand der Tag der Arbeit in Zürich ohne Grossdemonstration statt. Protestiert wurde dennoch. Eindrücke von einem eigenartigen 1. Mai.

Zürich bleibt am diesjährigen Tag der Arbeit ohne Grosskundgebung von Gewerkschaften und linken Parteien. Der Grund: das Coronavirus.
Zürich bleibt am diesjährigen Tag der Arbeit ohne Grosskundgebung von Gewerkschaften und linken Parteien. Der Grund: das Coronavirus.

Simon Tanner / NZZ

An Hausfassaden und Wänden kleben 1.-Mai-Plakate.
An Hausfassaden und Wänden kleben 1.-Mai-Plakate.

Simon Tanner / NZZ

Um Punkt 14 Uhr wird die Stille auf dem Zürcher Helvetiaplatz plötzlich unterbrochen. Am Himmel über dem Volkshaus explodieren Feuerwerke, Böller donnern in den Gassen. Der Radau ist zwar nach wenigen Augenblicken vorbei. Doch die Aktion, zu der linke Kreise zuvor aufgerufen haben, wirkt wie ein Startschuss: Kurz darauf strömen immer mehr Menschen ins Langstrassenquartier.

Nach und nach entsteht eine zerstückelte Kundgebung. In Kleingruppen stehen die Leute auf dem Trottoir, halten bei der Tramhaltestelle Transparente und Plakate in die Höhe und tanzen im Regen auf den Verkehrsinseln rund um den Platz. Sie haben Rasseln, Glocken und Trillerpfeifen dabei. Immer wieder stimmen sie im Chor linke Parolen an: «Brecht die Macht der Banken und Konzerne» oder «Siamo tutti antifascisti», hallt es durch die Strassen.

In den Stunden zuvor waren auf dem Helvetiaplatz meist mehr Polizisten als Demonstranten und Passanten zugegen. Dort, wo sonst am 1. Mai der Umzug beginnt und Reden gehalten werden, standen Kastenwagen und Dutzende Einsatzkräfte in Vollmontur. 

Die Polizisten, am Nachmittag erstmals deutlich in der Minderheit, patrouillieren durch die Menschenmenge und machen vereinzelte Personenkontrollen. Mehrmals mahnen sie auch per Lautsprecher, die Abstandsregeln einzuhalten. Die Anweisungen gehen beinahe unter in den Gesängen der Leute.

Historische Absage

Zum ersten Mal in der Geschichte hat dieses Jahr in Zürich der Tag der Arbeit ohne Grossdemonstration stattgefunden. Die Covid-19-Verordnung erlaubte weder Reden vor versammelter Menge noch einen Umzug durch die Innenstadt. Die Gewerkschaften und viele andere linke Gruppierungen hielten sich daran. Sie machten stattdessen online auf ihre Forderungen aufmerksam.

Markus Bischoff, Präsident des Gewerkschaftsbundes des Kantons Zürich, verbreitet seine Anliegen in einer Videobotschaft. Er sitzt vor einem grauen Hintergrund, blickt in die Kamera und sagt:

Es ist nicht so, dass die sozialen Ungerechtigkeiten in der Corona-Krise ausgeglichen werden. Im Gegenteil: Viele von euch werden arbeitslos, viele von euch sind auf Kurzarbeit. Das heisst, 70 Prozent, 80 Prozent vom Lohn. Wer jetzt schon einen tiefen Lohn hat, ist unter dem Existenzminimum. Das kann für viele eine bedrohende Situation sein. Und wie ist es mit den Unternehmen? Sie erhalten von den Banken viele Kredite, das wäre gut und recht, wenn damit auch Arbeitsplätze gesichert würden, aber Garantien gibt es nicht.

Mit Pfannendeckeln machen Zürcherinnen und Zürcher Lärm. Sie folgen damit einem Aufruf des Gewerkschaftsbundes.
Mit Pfannendeckeln machen Zürcherinnen und Zürcher Lärm. Sie folgen damit einem Aufruf des Gewerkschaftsbundes.

Simon Tanner / NZZ

Der Protest fand dieses Jahr vor allem zu Hause statt.
Der Protest fand dieses Jahr vor allem zu Hause statt.

Simon Tanner / NZZ

Die Forderungen im Netz sind laut und deutlich. Auf den Strassen beginnt der Tag jedoch ungewöhnlich ruhig. In den Morgenstunden erinnern nur die Fahnen und Transparente an den Häuserfassaden an den «Höhepunkt des linken Jahres» (Juso). Darauf zu lesen sind Parolen wie «Gesundheit statt Profit», «Solidarität heisst Minderheiten schützen» oder «Frauen tragen die Krise – ohne uns steht alles still».

Zunächst sind nur vereinzelte Protestaktionen zu sehen. Eine Frau hat sich allein neben ihrem Fahrrad auf den fast menschenleeren Helvetiaplatz gestellt. Knapp 20 Minuten steht sie stumm da und hält ein Kartonschild in den Händen. «Leave no one behind», steht darauf.

An der Kanzleistrasse hat die Bewegung für den Sozialismus vor dem Eingang ihres Büros einen Bücherstand aufgestellt. Das «Kommunistische Manifest» und Werke über Rosa Luxemburg, Leo Trotzki und Karl Marx liegen auf. Ein junger Mann steht vor dem Klapptisch. Er bedauert, dass dieses Jahr keine Grossdemonstration stattfinden kann. Seine Gruppierung halte sich aber an die Corona-Vorgaben. «Es ist wohl das erste Mal, dass uns der Staat sagt, dass wir etwas nicht dürfen, und wir ihm voll und ganz zustimmen», sagt er.

Die morgendliche Ruhe wird nur einmal kurz unterbrochen. Um 11 Uhr treten einige Bewohnerinnen und Bewohner der Innenstadt auf ihre Balkone und schlagen auf Topfdeckel, klatschen in die Hände und singen Lieder. Sie folgen damit einem Aufruf des Gewerkschaftsbunds, um auf diese Weise für gerechtere Löhne zu protestieren.

Der kurze Lärmprotest kann nicht darüber hinwegtäuschen: so ruhig wie dieses Jahr war der 1. Mai in Zürich wohl noch nie. pic.twitter.com/V1XuNCRyyG

— Nils Pfändler (@lionils) May 1, 2020

Den ganzen Tag über löst die Polizei immer wieder kleinere Demonstrationen auf, nimmt mehr als ein Dutzend Personen fest und spricht Wegweisungen aus. Beim Goldbrunnenplatz etwa verhaften die Einsatzkräfte fünf Personen, weil sie gegen das Versammlungsverbot verstossen und versucht haben, Transparente auszuhängen. Dies schreibt die Stadtpolizei Zürich in einer Mitteilung.

Beim Zürcher Rathaus werden am Mittag zwei Teilnehmer einer Versammlung mehrerer Gruppierungen verhaftet. Sie haben sich laut Angaben der Stadtpolizei geweigert, das Gelände zu verlassen. Zudem habe man bei ihnen auch Demonstrationsutensilien und pyrotechnisches Material gefunden.

Beim Bellevue versammeln sich am Nachmittag rund 100 Personen, um gegen die Zustände in der Türkei zu demonstrieren. Die Polizei weist die Teilnehmer auf das Versammlungsverbot hin und fordert sie auf, den Platz zu verlassen. 40 Demonstranten weigern sich jedoch zu gehen. Laut Mitteilung der Stadtpolizei Zürich sind sie daraufhin kontrolliert und wegen Verstosses gegen die Covid-19-Verordnung des Bundesrats angezeigt worden, ein Teilnehmer wurde verhaftet.

Nicht immer bleiben die Proteste friedlich. In einem Video, das Linksextreme auf Twitter veröffentlichten, ist ein Farbanschlag auf eine Bankfiliale der Credit Suisse zu sehen. Laut Polizeiangaben entstand dadurch ein erheblicher Sachschaden an den Fenstern und der Fassade des Gebäudes. Zwei Tatverdächtige wurden festgenommen. Es bleibt nicht bei einem Farbanschlag. Auf Twitter prahlen die Linksextremen mit weiteren Aktionen.

Im Internet werden gleichzeitig gesittete politische Diskussionen geführt. Auf der digitalen Plattform Zoom sprechen die beiden Gewerkschafterinnen Martina Flühmann und Isabelle Breiner über das Thema «Kitas schon vor Corona in der Krise». Sie sind sich einig, dass vieles im Argen liegt.

Flühmann: Die Kitas müssen gestärkt aus der Krise hervorgehen, weil wir sie alle brauchen. Wir wissen, was Betreuung heisst, wir haben einen Bildungsauftrag zu erfüllen. Unter den jetzigen Bedingungen sind die Vorgaben der Politik allerdings nicht umsetzbar.

Breiner: Es war immer klar, dass wir in der Krise solidarisch in der Kita arbeiten für jene etwa, die im Gesundheitswesen arbeiten. Für uns war es jedoch sehr enttäuschend, dass es keine klare Kommunikation gab, wie wir unsere Arbeit umsetzen sollen. Jede Kita musste deshalb für sich selbst einen Plan erstellen, anstatt dass dies klar geregelt worden wäre. Eigentlich ist das tragisch in einem System wie unserem.

Hausbewohner machen mit Lärm und selbst gebastelten Plakaten und Wimpeln auf den Tag der Arbeit aufmerksam.
Hausbewohner machen mit Lärm und selbst gebastelten Plakaten und Wimpeln auf den Tag der Arbeit aufmerksam.

Simon Tanner / NZZ

Journalisten beobachten das Treiben an diesem ungewöhnlichen Tag der Arbeit.
Journalisten beobachten das Treiben an diesem ungewöhnlichen Tag der Arbeit.

Simon Tanner / NZZ

Auch die Historikerin und Feministin Heidi Witzig verkündet ihre Botschaft per Video:

Was verstehe ich als Alt-68erin und Feministin unter Solidarität? Fundamental für Solidarität ist die persönliche Diskriminierungserfahrung. In meinem Fall, als Mädchen aus der Mittelschicht, aufgewachsen ohne materielle Sorgen, war es eindeutig die Geschlechtszugehörigkeit. In der Primarschule hatten wir weniger Unterrichtsstunden als Buben, aber die gleichen Bedingungen an den Prüfungen. Im Gymnasium erhielten wir das sagenhafte Lehrmittel «Staatskunde für Mädchen», in dem der ganze politische Teil fehlte. Während des Studiums gab es keine Professorinnen, und im Fach Geschichte waren Frauen als historisches Subjekt unbekannt.

Kritik am Vorgehen der Polizei

Am späten Nachmittag wird auf den Strassen der Protest gegen das Demonstrationsverbot immer lauter. Je mehr Leute zum Helvetiaplatz kommen, desto aufgeladener wird die Stimmung. Der Polizeieinsatz stösst zunehmend auf Unverständnis. Die Einsatzkräfte ernten Buhrufe, als sie vier als Clowns verkleidete Demonstranten kontrollieren und schliesslich drei von ihnen wegweisen. 

Eine junge Frau erzählt, dass ihr die Polizei am Morgen ein Transparent abgenommen habe. «Das Demonstrationsverbot kann ich verstehen. Aber das geht nicht», sagt sie genervt. Sie hat am Mittag deshalb kurzerhand ein neues Plakat gemalt. «Meinungsfreiheit», steht in grossen gelben Buchstaben darauf. «Finger weg von Transpis.»

Wenige Meter neben ihr steht der Filmemacher Samir und hält ein Schild in der Hand. «Rykart, ich lass mir meine Grundrechte nicht nehmen», so kritisiert er die Zürcher Polizeivorsteherin.

Auch im Netz wird Kritik laut. Der grüne Gemeinderat Luca Maggi empörte sich auf Twitter darüber, dass die öffentliche Meinungsäusserung unterbunden werde und auch Personen, welche Distanz- und Hygienevorschriften einhalten, weggewiesen worden seien. «Ein Armutszeugnis, was sich die Stadtpolizei heute erlaubt», schrieb er in seinem Tweet. «Das muss ein Nachspiel haben.»

Politische Äusserungen will der Stadtpolizei-Sprecher Marco Cortesi nicht kommentieren. Die Polizei hat aber im Vorfeld und während des Tags der Arbeit immer wieder kundgetan, dass sie aufgrund der ausserordentlichen Lage keine Kundgebungen und Umzüge tolerieren werde.

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